18.04.2005

Inkaspeicher

von Nils Röller

Die Inkas regierten und verwalteten ihr ausgedehntes südamerikanisches Reich, ohne über schriftliche Aufzeichnungen zu verfügen.

Karl May erwähnt sie als volkskundliche Seltsamkeit und italienische Damen verwendeten sie als modischen Schmuck, die Quipus, jene geflochtenen Gedächtnishilfen, die im Reich der südamerikanischen Inkas zur Beherrschung von Raum und Zeit eingesetzt wurden. Die peruanische Künstlerin Karen Michelsen Castanon hat den Quipus das Video "Umarmung" gewidmet, das nun in der Ausstellung "Ökonomien der Zeit" zu sehen ist. Michelsen Castanon gelingt es, die politische Dimension der überlieferten Gedächtnisstricke vor dem Hintergrund ihrer Familiegeschichte zu verdeutlichen. Aus einer medienhistorischen Kuriosität des Andenlands wird so ein Fallbeispiel für die Macht der europäischen Schriftkultur. Die Inkas regierten und verwalteten ihr ausgedehntes südamerikanisches Reich, ohne über schriftliche Aufzeichnungen zu verfügen. Stattdessen benutzten sie ein System von schmalen geflochtenen Stricken, die an einem breiteren Strang befestigt wurden. In die Stricke waren Knoten geflochten, die den sogenannten "Quipucamayoqcunas" Auskunft über Getreidevorräte, Waffenlager und Wasserstände in den Städten gaben. Die gelehrten Männer, so ist der "Umarmung" zu entnehmen, wurden von den spanischen Eroberern als Leser einer barbarischen Schrift bezeichnet. Das ist ein klassischer Fall eines Medienwechsels, in dem die Speichertechnik der Sieger die Technik der Besiegten als unterentwickelte Vorstufe degradiert.

Vor dem Hintergrund des gewaltigen Medienwechsels, der in unserer Gegenwart von analogen Medien (wie dem Buch und der Zeitung) zu vernetzten digitalen Speichern (wie der CD-Rom und dem Internet) stattfindet, wird die Erinnerungsarbeit der Künstlerin hochaktuell. Sie berichtet, dass die weisen Männer der Inkas nicht gelesen haben, sondern mit den Knoten Gedankenbilder aus der Erinnerung wachriefen, die nur den Mitgliedern ihrer Kaste bekannt waren. Die Quipus hatten also die Funktion, Bilder zu stimulieren, die in den Köpfen Auserwählter abgelegt waren. Wie das genau vor sich ging, darüber kann die Künstlerin keine Antwort geben, denn mit dem Medienwechsel vom Quipu zur phonetischen Schrift der europäischen Kolonisatoren ging das Wissen um diese Technik verloren.

Das lesende Europa erfuhr von den Quipus durch die tragische Liebesgeschichte der Inka-Prinzessin Zilia, die von der französischen Autorin Françoise de Graffigny erfunden wurde. Zilia verschriftlicht in dem Roman aus dem 18. Jahrhundert die Knotenschnüre, die sie aus ihrer europäischen Gefangenschaft an einen geliebten Prinzen im fernen Peru sendet. Der Roman machte die Quipus populär. Den Damen der neapolitanischen Oberschicht gefiel es dann, Quipus selbst zu knüpfen und sich damit zu schmücken. Die "Umarmung" veranschaulicht eine beispielhafte künstlerische Ökonomie, die mit wenigen Mitteln eine vergangene Welt andeutet und zugleich Fragen nach der Zukunft der Vergangenheit aufwirft. Denn während sie darlegt, dass die Quipus eine exklusive Technik der regierenden Inkas waren, stellt sie zugleich die Frage nach den Ausschlüssen und Zwängen heutiger Medientechnik. Das Internet gestattet es nicht, die Wirkung der verdrängten Technik zu erschliessen. Stattdessen kann die Künstlerin Hinweise auf die Knüpftechnik erhalten, indem sie Vater und Mutter über Textilien sprechen lässt. Die so gewonnenen rudimentären Erinnerungen illustrieren dann, wie das Modell des europäischen Stammbaums die knotenförmige Ahnengeschichte der Peruaner überlagert. Während Michelsen Castanon aus der Vergangenheit zukünftige Fragen birgt, setzt der Amerikaner Peter Fend sein künstlerisches Kapital für den Traum einer besseren Zukunft ein. Landkarten mit Wasserquellen in Asien bedecken die Wände seines Raums in der Ausstellung. Orte, an denen Fend eine besonders nachhaltige Wasserwirtschaft für möglich hält, sind dort eingezeichnet. Er versteht die Arbeit als Alternative zur weltweiten Energiepolitik. Zu kurz kommen in dieser Ausstellung die brisanten Fragen nach dem Verhältnis von Technik und Zeit. Es verblüfft, dass in der Ausstellung keine Brückenschläge zu den vielfältigen Zeitvorstellungen der modernen Naturwissenschaften gesucht werden. Offensichtlich möchten die Kuratoren in einer Zeit, da die Ökonomien technisch und wissenschaftlich beschleunigt werden, nur mit vertrauten Konzepten wirtschaften.