28.05.2002

Industriespionage und Forschungstransfer

von Nils Röller

[...] er verdingte sich in amerikanischen Fabriken als Putzhilfe und registrierte, was er dort an Neuerungen fand.

Um 1870 begannen die Schwarzwälder Uhren anders zu ticken. Zu diesem Zeitpunkt dominierten amerikanische Uhren den Weltmarkt und verdrängten die deutschen Anbieter. Die US-Produkte waren preiswerter, weil ihre Herstellung arbeitsteilig organisiert war. Das gelang durch strenge Prüfung der Fertigungsteile mit Hilfe von „Formlehren“. Diese Messtechnik führte auch dazu, dass ungelernte Arbeiter die Aufgaben der Uhrmacher übernehmen konnten. Die Schwarzwälder Uhrmacher reagierten auf die Bedrohung durch die amerikanische Produktion, indem sie ohne Lohnausgleich länger arbeiteten, aber das half nichts. Einen Ausweg fand Arthur Junghans, er verdingte sich in amerikanischen Fabriken als Putzhilfe und registrierte, was er dort an Neuerungen fand. Mit Arm, Bein, Daumen und Fingernagel mass er die Maschinen der Amerikaner aus, notierte insgeheim seine Messungen und begann nach seiner zweijährigen Spionage-Tätigkeit, den geerbten Produktionsbetrieb im Schwarzwald neu zu organisieren. Seine Mitarbeiter mussten sich daran gewöhnen, jedes Einzelteil mit Formlehren zu kontrollieren und an den nachgebauten Maschinen zu arbeiten. Das Kopierverfahren von Junghans hatte Erfolg, es wurde von anderen deutschen Betrieben nachgeahmt und vor Ausbruch des Weltkrieges stammten ca. 60 % der weltweiten Exporte von Grossuhren wiederum aus dem Schwarzwald, führte Jakob Messerli vom Landesmuseum für Technik und Arbeit Mannheim aus.

Die Tagung ist ein ehrgeiziger Versuch, statt Spionage auf den Transfer setzen, [...]

Messerli sprach auf der Tagung „Passagen des Experiments“, die das Berliner Max-Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte in Weimar veranstaltete. Die Tagung ist ein ehrgeiziger Versuch, statt Spionage auf den Transfer setzen, und zwar zwischen innovativer Forschung in Berlin und universitärer Lehre an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar. Im gemeinsamen Zentrum der beiden Institutionen steht die Frage, wie Techniken, seien es Geräte zur Zeitmessung oder ganze Mediensysteme wie Kino, Video oder das Internet Raum und Zeit gestalten. Mit dem Projekt „Die Experimentalisierung des Lebens“ leistet das Berliner Max-Planck-Institut in diesem Sinne kulturwissenschaftliche Grundlagenforschung. Es untersucht, wie Messtechniken in den Laboren des neunzehnten Jahrhunderts die Begriffe von Bewegung, Dauer und Leben ändern. Henning Schmidgen, der verantwortlich die Tagung organisierte, zeigte am Beispiel des Labors von Franciscus Cornelius Donders in Utrecht, wie in den 1860iger Jahren die Stimmgabel eingesetzt wurde, um Reaktionszeiten zu messen. Donders liess Versuchspersonen auf phonetische Reize reagieren und notierte die auftretenden akustischen Schwingungen. Dabei wurde die Stimmgabel in ein Schreibinstrument verwandelt, das systematisch Längen und Kürzen von Vokalen aufzeichnete.

Den Zusammenhang zwischen politischem Umfeld, Apparaten und wissenschaftlicher Revolution stellte Peter Galison aus Harvard dar. Der Wissenschaftshistoriker, der sich derzeit auch als Kurator der Ausstellung Iconoclash in Karlsruhe für den Transfer geschichtlicher Forschung einsetzt, verglich den Physiker Einstein mit dem Mathematiker Poincaré. Beide waren mit der babylonischen Zeitvielfalt beschäftigt, die sich durch Eisenbahnnetze und den Kolonialismus seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ausbreitete. Einstein arbeitete vor seiner Lehrtätigkeit an der ETH Zürich im Patentamt der Stadt Bern und musste Erfindungen beurteilen, die zeitliche Standards telegraphisch vermittelten. Die Übertragung einer Zeitmessung von Bern nach Zürich dauerte eben. Diese Dauer war nicht mehr zu tolerieren, sondern musste eingerechnet werden, um den wachsenden Zugverkehr zu takten. Was war aber nun die Zeit wirklich? War sie eine Mitteilung des göttlichen Schöpfers oder war sie das Ergebnis einer schlichten Addition, zum Beispiel von der Lokalzeit in Bern und der Dauer der telegraphischen Übertragung von Bern nach Zürich?

Den Mathematiker Poincaré, Mitglied der französischen Kommission zur Festlegung von Massen und Gewichten, beschäftigte ebenfalls die Gesetzmässigkeit der Zeit. Im Unterschied zu Einstein suchte er jedoch nicht Einsichten in die wirkliche Natur der Zeit. Poincarés wissenschaftliches Credo war der Konventionalismus. Ihm zufolge beruhen Annahmen über Raum und Zeit auf Absprachen. Galison zeigte, dass Einstein und Poincaré mit Geräten zur Standardisierung von Lokalzeiten arbeiteten. Er argumentierte, dass die Materialität der Geräte abstrakte Theorien füttert und so die Relativitätstheorie entstehen liess.

Bedauerlich an der Tagung war, dass zwischen Wissenschaftsgeschichte und Medienwissenschaft nicht vermittelt wurde. Die Fülle des von den Berlinern vorgestellten Materials besass toxische Wirkung. Es fehlte der Tagung ein Claude Bernard, an den Bettina Wahrig erinnerte. Der französische Biologe setzte das tropische Gift Curare ein, um das Phänomen des plötzlichen Todes zu erforschen. Bernard arbeitete heraus, dass Curare die Übertragung der Nervenerregung auf die Skelettmuskulatur lähmt. Es liegt nun an der Medientheorie die Übertragung der Signale aus den produktiven Organen der Wissenschaftsgeschichte auf die Muskulatur der Alltagskultur zu erforschen.