13.02.2001

Kannibalismus für eine Stadt im Internet

von Nils Röller

Otto Rössler hält den Zeitpunkt für gegeben, daß man eine Stadt mit dem Namen Lampsakus wieder erbauen kann.

Lampsakus soll eine Stadt werden, die zunächst im Internet angesiedelt ist.

Lampsakus ist eine antike Stadt, in der die modernen Schulferien erfunden wurden. Es ist auch die Stadt, aus der der erste europäische Chaosdenker Anaxagoras stammte und in der Priapos, das männliche Glied verehrt worden ist. Otto Rössler hält den Zeitpunkt für gegeben, daß man eine Stadt mit dem Namen Lampsakus wieder erbauen kann. Der Physiker und Medientheoretiker aus Tübingen hat kürzlich in einer Broschüre erste Schritte zu dieser Neubegründung formuliert. Lampsakus soll eine Stadt werden, die zunächst im Internet angesiedelt ist. Physikalische Überlegungen bestärken die Hoffnung, daß durch Kommunikation Wünsche wirklich werden. Wer genaueres wissen möchte, müßte die Fachliteratur studieren. So kann man bei der Lektüre von Otto Rösslers Schriften zur Endophysik erfahren, daß diese Hoffnung von dem Wechselverhältnis von Subjekt und Objekt abhängt. Die Grenze zwischen subjektiver Produktion und objektiver Wirklichkeit sei so schwer zu bestimmen, daß man hoffen darf, durch den Willen Teilchen zu verändern. Doch ist diese Veränderung nicht mit einem starren Generalplan durchsetzbar, sondern bedarf des Feingefühls, der Balance und der Geduld. Die Wirklichkeit läßt sich von unseren Wünschen bestimmen. Doch wir wissen nicht wie und wann. Lampsakus ist so ein Wunsch. Die bisherigen Pläne stellen sie als eine Stadt vor, die am Modell der amerikanischen Campus-Universitäten orientiert ist. Sie verspricht freien Zugang zu Bibliotheken und zur Telekommunikation. Die Vorstellung ist steril und von akademischen Gepflogenheiten geprägt. Dies sind die akademischen Gepflogenheiten der wenigen, die in Amerika mit offenen Armen empfangen wurden. Andere, wie der Physiker David Bohm, verschlug es nach Sao Paulo in Brasilien. Sao Paulo ist eine "erstinkende" Stadt, die denkbar weit von allen Träumen idealer Städte entfernt ist, aber gerade hier läßt sich die Zukunft des menschlichen Miteinanders studieren. Auf den Straßen kann man Händler beobachten, die auf Rücken von Bettlern Messer schleifen, man sieht Krüppel, die in den ungesicherten Industrieanlagen versehrt wurden und immer wieder Abfallsammler, die große Karren mit Zivilisationsmüll durch die Straßen ziehen, auf denen sich auch zahlreiche Mittelklassewagen deutscher Hersteller stauen. Beachtenswert ist die Biennale von Sao Paulo im Parque do Ibirapuera. Am 2. Oktober war die Eröffnung der größten Kunstausstellung Südamerikas. Ca. 10.000 Besucher stauten sich zunächst in Autokolonnen und dann auf den großen Freitreppen des Biennale-Gebäudes.

"Brasilianisiert euch", diese Forderung des Literat Blaise Cendras aus den zwanziger Jahren möchte man als Fazit der Ausstellung mit sich nehmen. Blaise Cendrars sagte dies zu Brasilianern. Er reiste zu Beginn der zwanziger Jahren mit Künstlern aus der südamerikanischen Kaffee Metropole in das Landesinnere und ermunterte ihre Kunstproduktion nicht durch Vergleiche mit Europa zu legitimieren. Blaise Cendras stand neben Francis Picabia Pate beim anthropophagischen Manifest des Brasilianers Oswald de Andrade. Der schrieb dann 1928: " Gegen die vegetierenden Eliten. Kommunikation mit dem Erdboden ... Wir sind die Konkretisten. Die Ideen nehmen überhand, reagiere, sie verbrennen Leute auf den öffentlichen Plätzen. Überwinden wir die Ideen und die anderen Lähmungen. Durch Entwürfe. Den Zeichen glauben. Den Instrumenten glauben und den Sternen". Das Manifest geschrieben "im Jahr 374 nach dem Verschlingen des Bischofs Sardinha" lebt von der Gegnerschaft und dem Willen, mit der europäischen Geistesgeschichte zu brechen. Sie wird ungenau mit globaler Technisierung gleichgeschaltet: "Die Fixierung des Fortschritts durch Kataloge und Fernsehapparate. Nichts als Maschinerie".

Diesen Text erhielten die Besucher der 24. Biennale von Sao Paulo mit ihren Einladungskarten zur Vernissage am 2. Oktober. Der Begriff "Anthropophagie" wird vom Kurator Paulo Herkenhoff und seinen Kollegen in drei Sektionen als funkelnde Linse geschliffen. Die historische Sektion im dritten Stockwerk veranschaulicht Etappen der Auseinandersetzung mit dem Greuel des Menschenfressens. Ein Anlaß menschliches Fleisch zu verzehren ist der Nahrungsmangel. Er wird bei Dante als das Verbrechen Ugolinos beschrieben, der seine Kinder verzehrt haben soll. Menschenfresserei soll auch unter den Schiffbrüchigen der Medusa vorgekommen sein, die Gericault in Szene setzte. Ein anderes Motiv ist die rituelle Aneignung der Kraft unterlegener Feinde oder nicht faßbarer Mächte. Christliche Rituale wie die heilige Kommunion werden von den Kuratoren und Autoren als sublimierte Form der Anthropophagie begriffen und aus diesem Grund ist auch Goyas Gemälde der "Letzten Kommunion des Joseph Calansanz" Exponat der Biennale, die mit weitere Arbeiten des Spaniers wie "Saturn frißt seine Kinder" kannibalistische Szenen vorführt, in denen die Greueltaten Anderer zu sehen sind. Kannibalimus ist keine gut verbürgte historische Tatsache, sondern eine Kategorie der Ausgrenzung und Herabsetzung. Die barocken Berichte des deutschen Brasilienreisenden Hans Staden über den Kannibalismus weiblicher Indianerinnen wurden im 17. Jahrhundert nicht als Abenteuerroman eines Haudegens erkannt, sondern sie dienten Kolonialisatoren als Legitimation für die Plünderung und Ausrottung von Ureinwohnern.

In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts setzte ein Standpunktwechsel ein, der mit Picabias Zeitschrift "Cannibale" auf 1920 datiert werden kann. Picabia bezeichnet sich selbst als Javaianer und betrachtet dabei den Kannibalismus als Chance, sich von der europäischen Kultur loszusagen.

Lampsakus läßt sich als Stadt planen, aber auch als Interface, das man wie das "Jetzt" immer in der Tasche hat.

Wenn die Biennale nach 70 Jahren an das anthropophagische Manifest erinnert, feiert man damit nicht einen historischen brasilianischen Geistesblitz. Das wäre nicht glaubwürdig, da Picabia und Cendras Paten der inszenierten Neugeburt dieser brasilianischen Identitätsbestimmung waren. Entscheidend ist die Sichtweise für die Beziehungen und Machtgesten zwischen Kulturen. Hier scheint mir eine Verbindung zu Lampsakus möglich. Lampsakus läßt sich als Stadt planen, aber auch als Interface, das man wie das "Jetzt" immer in der Tasche hat. Jetzt markiert eine Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft und ist vorhanden, ohne fassbar zu sein. Es ist ein Kofferwort, ähnlich wie das Wort Interface, das eine Grenze zwischen Innenbeobachtung und Beobachtung von Außen benennt. Nach den Überlegungen des Endophysikers besteht ein entscheidender Unterschied zwischen der Beschreibung einer Molekularbewegung, wenn der Beschreibende selbst eine Molekularbewegung ausführt und einer exophysikalischen Beschreibung. Sie wird unter der Voraussetzung durchgeführt, daß der beschreibende Beobachter nicht durch Molekularbewegungen beeinflußt wird. Eben diese Wechsel zwischen Beziehungen nimmt Herkenhoff auf, wenn er im Rahmen der historischen Ausstellung an das Werk des brasilianischen Künstlers Helio Oiticica erinnert. Er studierte Kunst in den fünfziger Jahren und mochte nicht länger monochrome Bilder kopieren. Stattdessen setzte er Farben in Bewegung, indem er aus Stoffresten Umhänge nähte. Diese Parangoles sind Filme und Kinoprojektoren in einem, wenn sie von den Bewohnern aus der Favela Mangueira beim Tanzen geschwungen werden. Voraussetzung ist daß mehrere Tänzer Parangoles tragen und die Zuschauer in ihre Tänze einbeziehen oder ihnen Parangoles leihen. Wie Partikel, die andere Partikel durch ihre Bewegung in Bewegung setzen, so setzen die Tänzer sich und die Betrachter in Bewegung. Die Grenze zwischen Subjekt und Objekt verläuft je nach dem Standpunkt des Beobachter, für einen tanzenden Beobachter anders als für einen stillstehenden Zuschauer. Doch was passiert, wenn der Tanz zu ende ist? Am diesjährigen Eröffnungsabend bestaunt die kulturelle Elite Relikte dieser Performances. Im Erdgeschoß wird währenddessen ein Kind belächelt. Es hat sich einen Bildrahmen aus Abfall zusammengezimmert hat und so ein Kunstwerk simuliert, um sich Einlaß zur Biennale zu verschaffen. Später werden Mensch und Rahmen von einem gutmütigen Wachmann abgeführt.

Man geht davon aus, daß es in Lampsakus keine Bettler gibt. Das Internet schließt aus, die nicht lesen und schreiben können.

Es wäre kein großes planerisches Problem, eine Sambaschule wie in Mangeuira für Lampsakus vorzusehen. Doch bleibt sie ein Reservat, wenn es nicht gelingt, daß überall Samba getanzt wird so wie überall gelesen wird. Hier liegt der kritische Punkt von Lampsakus aber auch dessen Chance, nämlich im Umgang mit den Differenzen zwischen interner Performanz und externer beobachtender Deutung, zwischen Experiment und Interpretation.

Die Sonderaustellung im zweiten Stockwerk trägt den Titel "Roteiros, Roteiros, Roteiros" (Reisepläne ...).
10 Kuratoren offerieren schillernde Prospekte auf die künstlerischen Zeichensetzungen ihrer heimatlichen Kontinente. Man begegnet einer farbenfrohen fleischfressende Pflanze aus Korea, pubertierenden Diskothekenblümchen in Holland, Tiefseetauchern aus Ozeanien, Straßenhunde in Lateinamerika, Straßenhandel mit Schriften zur Theorie des Kolonialismus. Künstlerische Produktionen, die lebendig sprießen aber doch immer wieder den Atem stocken lassen, da hier kein formaler Diskurs Zusammenhänge stiftet, sondern fruchtbar in allen Dimensionen gearbeitet: Videoinstallationen, Tafelbilder, andächtige Kammern und Teppiche auf denen reisende Händler in Sachen Kunst die Trouvaillen ihrer Recherchen ausbreiten, wie die schwarzen Migranten ihren Nippes in den Einkaufspassagen der westlichen Welt.

Hilfreich beim Besuch der 54 Reisepläne von Künstlern aus Afrika, Lateinamerika, Asien, Europa, Ozeanien und Vorderem Orient. ist ein weiterer Satz des Manifests: "Mich interessiert nur, was mir nicht gehört. Das ist das Gesetz der Anthropophagie". Denn hier in Brasilien blicken die Kuratoren auf die anderen Erdteile nicht mit dem Gefühl der Überlegenheit, sondern mit dem Interesse, wie anderorts mit der Dominanz fremder Werte- und Warenästhetik umgehen. Die drei Luo-Brüder aus Peking stellen Farbtafeln aus, auf denen sich westliche Markenzeichen harmonisch mit blumigen Verheißungen der Staatspropaganda Chinas vereinigen. Gegenüber befindet sich ein Eismeer aus Styropor. Die kanadische Gruppe überträgt Caspar David Friedrichs zerspellte Hoffnung im Eismeer in die dritte Dimension der Skulptur in der drei Seehundpuppen auf ihre künstliches Schicksal warten. Links davon sind die Fotoarbeiten Arakis zu sehen, rechts zeigt Chie Jen Chen aus Taiwan historische Aufnahmen von Hinrichtungen und Massakern, die Chinesen untereinander und im Auftrag von Europäern ausgeführt haben. Kleinen Abzügen der fotographischen Dokumente stellt er großformatige digitale Bearbeitungen zur Seite, in den er er Anteil nimmt. Die Betrachter können zwischen Original und Fälschung unterscheiden und bemerken das ein Bild nicht digital bearbeitet worden ist. Es illustriert die chinesische Auffassungen von 10 inneren Seelenteilen. Der Katalogbeitrag des Apinan Poshyananda legt anhand von historischen Berichten von Kannibalismus in Asien nahe, daß seiner Ansicht nach die Seelenteile dieses politischen Raums noch für lange Zeit im Konflikt miteinander bleiben werden.

Im Erdgeschoß stellen 54 Nationen Künstler vor. Im Unterschied zur Biennale in Venedig gibt es hier keine Pavillons, sondern Künstler und Kuratoren müssen ihre nationalen Ort auf der gewaltige Freifläche des modernen Baus selbst schaffen. Dies kommt der Vielfalt zu gute und verhindert architektonische Prahlerei. Die Arbeiten des Iren Brian Maguire (Kurator; Fiach Mac Conghail) und des Deutschen Mischa Kuball (Kuratorin: Karin Stempel) nehmen die Herausforderung Sao Paulo an. Kuball suchte Paulistaner in ihren Innenräumen auf und bot ihnen ein Tauschgeschäft an. Gegen eine von ihm gestaltete Musterlampe tauschten u.a. Geschäftsbesitze aus den reichen Jardins und Bewohner in einer der zahlreichen Favelas ihre Lampen ein. Kuball zeigte diese Lampen dicht gedrängt wie in der Beleuchtungsabteilung eines Kaufhauses. Brian Maguire zeichnete Kinder in der Favela Vila Prudente. Die Zeichnungen fotographierte er in den Innenräumen der Favelas und zeigte so auf der Biennale, wie Kunst anderorts in Sao Paulo wirken kann. Der Text im Katalog besteht aus einem Zitat von Jonathan Swift. Er schrieb 1729 angesichts des Elends von Dubliner Straßenkindern einen bescheidenen Vorschlag. Man möchte den Müttern bei der Geburt ihre Kinder fortnehmen. Dann sollten sie gemästet werden und an reichere Familien als Braten verkauft werden. Dieser Vorschlag ist von der heutigen Realität in Südamerika nicht weit entfernt. Der Handel mit den Organen von Straßenkindern macht immer wieder Schlagzeilen. Doch ist er ein weiterer Ausdruck bestehender wirtschaftlichen Abgründe zwischen westlicher klinischer Praxis und südamerikanischen Überlebenskampf. Das Wort Abgrund ist hier eine Exo-Kategorie, die dem europäischen Blick auf die kannibalistischen Zustände festschreibt. Kuball und MacGuire unternehmen den Versuch, in der Endo-Perspektive mit Sao Paulo zu arbeiten und Interfaces zwischen Lebensformen zu definieren. Als Kommentar kann man Ken Lums Arbeit verstehen. Der Repräsentant Kanadas hat gerahmte Spiegel im Eingangsbereich aufgehängt. Zwischen Rahmen und Spiegel hat er Fotos gesteckt. Wer sie betrachten möchte, betrachtet auch sich selbst im Spiegel. Wer über die Verhältnisse spekuliert, die Organhandel und Kannibalismus ermöglichen, spekuliert zwangsläufig auch über sich selbst und die Voraussetzungen, unter denen man andere betrachtet. In diesen Spiegeln liegt Lampsakus. Es ist ein Ort, in dem Subjekt und Objekt miteinander verwoben werden und man sich nicht leicht aus der Affäre ziehen kann.

Vielleicht ist ein schöner Gedanke schon ein Stück Lampsakus, das man so lange besitzt, wie man daran glaubt.