02.05.2000

Filme als Köder

von Nils Röller

Neue Menschlichkeit im Internet

Ein heutiger Humanismus muss [...] zwischen der populären Kultur der Fans und der Hochkultur der Cineasten vermitteln.

"Humanismus, das ist die Technologie der Zukunft," behauptet Henry Jenkins und zollt Erasmus Kontribut, in dessen Geburtsstadt er während des Rotterdamer Filmfestivals ein Referat über die Konvergenz von Kino und Internet in der populären Kultur hielt. Erasmus hatte sich darum bemüht, zwischen der Theologie und einer neuen Idee menschlicher Selbstverwirklichung zu vermitteln. Ein heutiger Humanismus muss hingegen zwischen der populären Kultur der Fans und der Hochkultur der Cineasten vermitteln. Zwar wird es das klassische Kino, dem man andächtig 90 Minuten lang folgt, auch weiterhin geben, man muss sich in digitalen Zeiten nur daran gewöhnen, dass Filmausschnitte bald auch auf Millionen von Handys zu sehen sein werden, ganz zu schweigen von vielen Kurzfilmen, die über das Internet abrufbar sind. Diese Filme haben eine Länge von bis zu 20 Minuten und werden häufig von Fans großer Filmsagas wie dem Krieg der Sterne oder Star Trek in das Internet gestellt.

Die Übergänge von einem Fan zu einem Programmierer von Spielen oder zu einem Drehbuchautoren sind fließend.

Er referierte in der Sektion "Exploding Cinema" auf dem Filmfestival Rotterdam, das in dieser Reihe von Diskussionen und Vorträgen die Zukunft der bewegten Bilder erforscht. Festivalleiter Simon Field und seine Kuratorin Femke Wolting sind davon überzeugt, dass ein Festival über Veränderungen in der Bildindustrie informieren muss. Dazu gehören Kurzfilme im Internet und Game Stations. Diese computergestützten Videospiele haben 1999 nach Angaben der Film-Ökonomen des Branchenblatts Variety einen Umsatz von 7,2 Milliarden Dollar erwirtschaftet und damit eng zu dem Umsatz der Filmindustrie (7,4 Milliarden Dollar) aufgeschlossen, so dass auch ein Festival Fersengeld geben muss, um die Filmliebhaber durch Informationen über neue Verwertungsstrategien der Traumfabrik zu wappnen. Eine jüngste Einschätzung der Bedeutung des Internet für die Filmindustrie formulierte Strauss Zelnick auf dem Variety Gipfel Anfang Februar in San Diego. Die Übergänge von einem Fan zu einem Programmierer von Spielen oder zu einem Drehbuchautoren sind fließend.

Troops hat im Internet so viel Aufmerksamkeit erregt, dass George Lucas dem Zwanzigjährigen einen Job als Programmierer angeboten hat.

Jenkins ist überzeugt, dass die Zukunft der Medien in den Händen der Fans liegt.

Ein Paradebeispiel ist Kevin Rubio. Er hat 1998 den Kurzfilm Troops programmiert, in dem Roboter aus der Armee von Darth Vader auftreten. Troops hat im Internet so viel Aufmerksamkeit erregt, dass George Lucas dem Zwanzigjährigen einen Job als Programmierer angeboten hat. Das Mitspinnen der Geschicke der Enterprise oder von Luke Skywalker wird hingegen in Amerika oft rechtlich verfolgt. Dabei sind die Fans kaum zubremsen. Nach dem Beispiel von Robin Hood rauben sie den Studios nur deshalb Copyright geschützte Charaktere, um sie der Gemeinschaft von aktiven Mediennutzern zu schenken. Mit geringen technischen Mitteln, z.B. zwei Videorekordern, mischen sie die Gesichter der Filmstars mit familiären Aufnahmen oder mit Musikvideos. Das Internet gestatte Fans weltweit, sich gegenseitig in ihren Nischen wahrzunehmen, Tipps für Kostüme und Drehbücher auszutauschen oder politische Ideen planetarischer Gerechtigkeit zu diskutieren. Jenkins ist überzeugt, dass die Zukunft der Medien in den Händen der Fans liegt. Das sind neue Töne aus der Technologieschmiede des MIT in Cambridge/Massachusetts, wo Jenkins lehrt und sich neben Forschern wie Marvin Minsky behaupten muss, für den Kultur nichts "als schlechte Wissenschaft" ist. Die Anerkennung, die Kevin Rubio mit seinem Film geerntet hat, ist ein Zeichen für erfolgreiche Nischenproduktion von Filmen. Es wird durch das Internet in ungeahntem Maße Fans, Underdogs, Bürgerrechtsbewegungen gestattet, radikale und weniger radikale Filme politischer und ästhetischer Natur zu zeigen, die sonst keine Produzenten und kein Publikum finden würden. Das bietet Freiheiten.

Doch die Kehrseite der schönen neuen Welt ist schon aus der Wortbedeutung "Netz" ableitbar. Das Netz ist ein Werkzeug der Beutejagd. Die großen Fusionen von Warner und AOL, ebenso die Emission von T-Online-Aktien sind Zeichen, dass die Spinnen sich darauf vorbereiten, das Internet zur Beutejagd zu nutzen. Bei diesen Beutezügen werden Independentfilme eine große Rolle spielen. Sie sind die Köder, mit denen man Konsumenten erreicht. Michael Comisch stellte in Rotterdam die Distribution von Filmen durch die Firma Atomfilms vor, in deren europäischer Abteilung er arbeitet. Sein Referat weckt den Verdacht, dass die digitale Revolution zu strategischen Verbindungen zwischen Computerfirmen und Werbeagenturen führt, die das kreative Potential von Filmemachern ausnutzen. Wählt man zum Beispiel die Seiten der Firma Atomfilms an, dann ruft man auch Werbefilme auf. Geworben wird für die Produkte von "Sponsoren", d.h. als Sponsoren titulierte Kunden der Firma Atomfilms, welche "kostenlos" Independent -Filme im Netz zeigt. Ohne Werbung keine Filme, nur dass die Werbung auf den Seiten von Atomfilms dominanter ist. Zugleich kann man mit Hilfe des Internet genau die Vorlieben der Konsumenten ausforschen. Die kurzen Filme wenden sich an ein Nischenpublikum, das Ranglisten der Filme erstellt und dem Regisseur per Email missliebige Punkte an seiner Produktion mitteilen kann.

Michael Comisch stellte es als wünschenswerte Perspektive dar, dass die Filmemacher die Einlassungen des Publikums bei weiteren Produktionen berücksichtigen. Zugleich erfährt Atomfilms, welche Vorlieben das Publikum hat, und kann individuell bestimmen, ob ein Besucher der Website Star Trek, Autorenfilme oder Western mag. Denkbar ist, dass bei seinem nächsten Besuch auf der Webseite solche Werbung zu sehen sein wird, die seinen Vorlieben entspricht. Das ist eine Form der Programmierung von Konsumbedürfnissen, die noch genauer als das Data Mining abstimmbar ist, das mit Hilfe von Kundenkarten in Supermärkten und Kaufhäusern praktiziert wird (Siehe dazu: Raffoul, Michel: "Der Supermarkt der Wünsche". In: Le Monde Diplomatique. Deutsche Ausgabe Februar 2000).

Es ist klar, dass Werbekunden Interesse an Filmen haben, mit denen sie genau die Konsumenten ihrer Produkte kennen lernen können. Das Internet strafft das Verhältnis zwischen Filmkonsum und Werbeindustrie und kann zu einer beklemmenden "Vernetzung" von Konsumgewohnheiten führen. Aus den digitalen Plünderern werden dann geköderte Fische, deren Vorlieben so genau stimuliert werden können, dass sie sich in den Netzen der Kulturindustrie verfangen. Die Verdienstmöglichkeiten, sei es mit der Filmproduktion für das Netz, sei es durch Werbung im Netz, sind noch unbekannt. Sie hängen von den zu erwartenden Werbeeinnahmen ab und vom Ausbau strategischer Partnerschaften zwischen Kunden und Herstellern.

Filmemacher Michael Dertouzos schildert in seinem Buch What will be (Wien 1999), wie Videos im Internet eingesetzt werden, um beim Online-Einkaufsbummel zu stimulieren. In einer Science-Fiction, von deren Realisierung wir nur noch ca. 10 Jahre entfernt sein sollen, spricht der Leiter des Informatiklabors am MIT von "unstillbaren Bedürfnissen", die am PC durch geeignete Videos auf dem Hintergrund effizienter Computerprogramme geweckt werden. In seiner Fiktion erwirbt die Hausfrau z.B. einen Traktor für Gartenarbeit, der nicht auf ihrer Einkaufsliste stand. Der Unterschied zum Einkaufsbummel in der realen Welt wird in einem Punkt drastisch sein. Weil vernetzte Datenbanken genau Ihre Bedürfnisse gespeichert haben, sehen Sie beim Bummeln nur noch, was Sie unbedingt wollen.

Für die Produzenten von Verkaufsvideos beginnt eine aufregende Zeit. Sie müssen sich den Bildformaten anpassen, die auf vernetzten Computern gut laufen. Derzeit sind die Bilder noch wackelig, doch das ist für Dertouzos kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen: "Entscheidend ist dabei aber die Tatsache, dass es auf dem Weg dahin keine unüberwindlichen technischen Hindernisse gibt, und dass genügend Kunden gern auf diese Art einkaufen werden. Machen Sie sich also bereit, denn es wird so kommen."

Auch Filmemacher werden bis dahin ausreichend Erfahrungen mit dem Internet gesammelt haben, um Filme zu produzieren, die "unstillbare Bedürfnisse" wecken. Derzeit erhalten sie für die Filme, die sie in das Internet stellen, keine Vergütung. Vermutlich werden sie beim Goldrausch nicht beteiligt werden. Das sollte sich schnell ändern, denn sie tragen dazu bei, dass andere Claims abstecken und ihre Profite steigern können. Damit ist noch nichts über künstlerische Ansprüche und Möglichkeiten gesagt.

Dazu könnte vielleicht ein moderner Erasmus etwas sagen. Er müsste mit den Brotarbeiten der großen Filmregisseure vertraut sein, programmieren können und juristisch und ökonomisch ausgebildet sein. Ein Supermann, auf den man nicht warten kann. Man muss selbst beginnen, ästhetische Fakten zu schaffen.