29.01.2006

„My Man’s Gone Now“

von Eckhard Fürlus

Zum Tod des Gitarristen Derek Bailey

Es gibt nichts, was man mit dieser Musik auch nur annähernd vergleichen könnte.

Die Nachricht entnahm ich den Nachrichtenmagazin: Der Gitarrist Derek Bailey, so las ich in der Rubrik Gestorben der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitschrift Der Spiegel, starb am 25. Dezember, also am 1. Weihnachtstag des eben vergangenen Jahres 2005, im Alter von 75 Jahren. Mit ihm verliert die Musikwelt einen herausragenden Musiker und – das wird man ohne Übertreibung sagen können – den wohl wichtigsten Gitarristen und Wegbereiter der improvisierten Musik.

Derek Bailey wurde am 29. Januar 1930 in Sheffield geboren. Musikunterricht erhielt er bei C. H. C. Biltcliffe; zu seinen Gitarrenlehrern gehörten George Wing und John Duarte. Von 1951 bis 1965 spielte Bailey als Gitarrist – solistisch, als Begleiter oder im Orchester – in Clubs, im Radio, im Fernsehen und in Aufnahmestudios. Während dieser Zeit begann er sich für frei improvisierte Musik zu interessieren. 1966 zog Derek Bailey nach London und spielte hier mit dem Trompeter Kenny Wheeler und dem Bassisten Dave Holland zusammen als Spontaneous Music Ensemble. 1970 gründete er mit dem Saxofonisten Evan Parker und dem Schlagzeuger Tony Oxley das Schallplattenlabel Incus Records, das unabhängig war und von den Musikern selbst verwaltet wurde. Zeitweilig war Derek Bailey Mitglied des Jazz Composers Orchestra. Mit dem Bassisten Barry Guy und dem Posaunisten Paul Rutherford gründete Bailey die Gruppe Iskra 1903, so benannt nach einer von W. I. Lenin herausgegebenen Zeitung.

1987 veröffentlichte Derek Bailey das Buch Improvisation, It’s Nature and Practise, ein grundlegendes Werk, eine Apologie der Kunst der Improvisation mit den ihr innewohnenden Momenten der Überraschung und des Unvorhersehbaren gegenüber jedweder routinierten, auf bloße Reproduzierbarkeit abzielende Unterhaltungsmusik. Man kann verschiedene Arten von Musik spielen, aber mit Spiel hat das dann nichts mehr zu tun. Man funktioniert nur noch und füllt eine Rolle aus. Freiheit, so hat es Derek Bailey einmal in einem Interview formuliert, bedeute für ihn „just to play more. I can play more in this music than in other kinds of music.“

Ich habe nicht viele Live-Konzerte von Derek Bailey gesehen. Nicht eben zahlreich waren die Auftritte des Meisters der improvisierten akustischen und elektrischen Gitarrenmusik im Fernsehen. Aber unvergleichlich und ewig unvergeßlich sind mir die Konzerte des Ausnahmegitarristen Derek Bailey anläßlich der Veranstaltungsreihe workshop free music in der Akademie der Künste in Berlin „in cooperation with Free Music Production“ in der Zeit vom 30. März bis zum 3. April 1972 und am 12. März 1981. Karten zu diesen Veranstaltungen kosteten damals 1,20 DM (1972) und 4,00 DM (1981).

Bei einem dieser Konzerte hatte Derek Bailey gegen 20 Uhr mit seinen Improvisationen begonnen. Das Auditorium saß auf Schaumstoffkissen auf dem Fußboden und hörte gespannt und aufmerksam zu. Armbanduhren, die stündlich einen Piepton von sich gaben, waren zu dieser Zeit der letzte Schrei. Als um 21 Uhr mehrere Uhren im Auditorium die volle Stunde verkündeten, beendete Bailey abrupt sein Gitarrenspiel und verschwand.

Gern läßt man sich dazu verleiten, die Gitarrenarbeit Derek Baileys mit dem zu vergleichen, was Cecil Taylor auf dem Flügel, dem Fortepiano gemacht hat und übersieht dabei nur zu leicht, daß diese sehr unterschiedlichen Instrumente völlig verschiedene Voraussetzungen zur Grundlage ihrer Beherrschung erfordern. Die Geschichte der Lauten- und Gitarrenmusik ist eben eine ganz andere als diejenige der Cembalo- und Klaviermusik, und Gemeinsamkeiten sind eher zufällig.

Zu meinen Lieblingsplatten gehört eine CD mit dem Titel Wireforks, eine Einspielung von dreizehn Kompositionen aus dem Jahre 1995, apostrophiert als „collaboration between two of the world’s premiere improvising guitarists“, nämlich Derek Bailey und Henry Kaiser. Es gibt nichts, was man mit dieser Musik auch nur annähernd vergleichen könnte. Und dem, was Richard Gehr von The Village Voice auf der Rückseite der CD Wireforks zusammenfassend schreibt, kann man nur zustimmen: „Guitar music will never be the same.“ – Right you are!