02.04.2005

Sun Ra – The Immeasurable Equation

von Eckhard Fürlus

James L. Wolf und Hartmut Geerken bringen die gesammelte Dichtung und Prosa von Sun Ra ans Licht.

„I am not of this planet.
I am another order of being.
I can tell you things you won’t believe.“
Sun Ra, The Aim Of My Compositions

Die Umstand, daß nach dem Tod eines arrivierten Musikers in den meisten Fällen wesentlich mehr Tonträger mit seiner Musik in Umlauf sind als zu seinen Lebzeiten, ist so banal wie bedauerlich. Der Komponist, Keyboarder, Arrangeur und Bandleader Sun Ra (1914-1993) ist keine Ausnahme von dieser Regel. Seine mit dem Arkestra eingespielte Langspielplatten – darunter eben auch jene längst vergessenen und in extrem niedriger Stückzahl aufgelegten Alben mit zum Teil handgemalten Covers – sind heute als CDs oder via Internet vergleichsweise leicht erhältlich. Das große Verdienst des Sun Ra Forschers und Archivars Hartmut Geerken ist es, nach vielen Jahren intensiver Recherchearbeit nun mit dem Gedichtband „Sun Ra – the Immenasurable Equitation“ den Dichter und Schriftsteller Sun Ra einer interessierten Öffentlichkeit vorzustellen.

„You will step out of the pages of the blinking blind of the book, And gaze astaunded at the endless space of the cosmic Void.“
Sun Ra

Jeder Übersetzer ist ein Schleiermacher, hat Friedrich Nietzsche einmal zweideutig in Anspielung auf den Philosophen und Theologen Friedrich Schleiermacher (1768-1834) geschrieben und damit auf die Schwierigkeit bei der Übersetzung von Texten angespielt. Drastischer drückt es der amerikanische Schriftsteller Robert Frost aus, wenn er sagt, Poesie sei dasjenige, was in der Übersetzung von Gedichten verloren geht. Hartmut Geerken, zusammen mit James L. Wolf der Herausgeber der gesammelten Gedichte und Prosatexte von Sun Ra, hält die Lyrik des afroamerikanischen Musikers und Bandleaders schlicht für unübersetzbar. So wundert es nicht, daß der im Mai dieses Jahres bei Books on Demand erschienene Gedichtband „Sun Ra – The Immeasurable Equitation“, ein Opus von insgesamt 530 Seiten, auf Übersetzungen verzichtet und lediglich die englischsprachigen Originaltexte Sun Ras vereint.

Enactment

After all is said and done
It is a deed did
And the act is executed
The absolute right
The dead right.
After all is said and done
What more is there to say or do
For that which is executed is
made to be
An act which came to paß
As every law is passed
In order that it is.

Brothers of the Sun

Music can break down
Any door
Be it stone or iron.
It can teach a king to
Smash tradition’s fort
Cross the moat of feudal defense
And bring to naught
The bonds of languages
That separate and demean
The brothers of the sun.

Die Anfänge des Vorhabens, die gesammelte Dichtung Sun Ras zu publizieren, gehen zurück auf das Jahr 1971. Hartmut Geerken hatte den Musiker Sun Ra im Juni 1971 nach Kairo eingeladen und vorgeschlagen, in Ägypten im Angesicht der Sphinx zu spielen. Ein halbes Jahr später folgte Sun Ra dieser Einladung. Er kam mit seinem gesamten Arkestra und blieb zwei Wochen lang in Ägypten. Eines morgens, schreibt Hartmut Geerken im Vorwort, habe Sun Ra ihm einige seiner Gedichte präsentiert und gesagt, daß er sie demnächst veröffentlichen wolle. Daraus entstand Immeasurable Equation, ein erstes Buch mit Sun Ras Lyrik, das Geerken sofort begeistert hatte und das für viele Jahre sein ständiger Begleiter wurde. 1995 hatte Geerken sich entschlossen, ein wesentlich umfangreicheres Buch mit der gesammelten Dichtung Sun Ras in Deutschland herauszugeben. Dieser Plan scheiterte damals jedoch an den Inhabern des Copyrights. Erst eine Zusammenarbeit mit James L. Wolf von der Library of Congress in den USA, den Geerken 1997 kennengelernt hatte, machte eine Verwirklichung dieses Projekts möglich.

Energies (1972)

The cosmic roles
written on sundry parchments
Tinted with fire
Blue vibrations of pulsating flame
Energies ... force dimensions
Abstract planes of sight and sound.

Damit keine Mißverständnisse entstehen, hat man vor das Inhaltsverzeichnis dieses Buches eine Reihe von Zitaten von namhaften Autoren, Philosophen, Dichtern und Musikern wie Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494), John Keats (1796-1821), Robert Browning (1812-1889), Ezra Pound (1885-1889) und Lester Bowie (1941-1999) gestellt. Die auf den ersten Blick kryptisch anmutenden Gedankensplitter über das Verstehen und Begreifen resp. über das Nichtverstehen und Nichtbegreifen sind ganz offensichtlich als Anleitung gemeint für die nachfolgende Lyrik Sun Ras. Pico della Mirandola z. B. wird zitiert mit dem Satz: „The sun is here and radiates / in the darkness, and your darknesses / don’t comprend it.“ Von Lester Bowie liest man: „Our shit is beyond the people / who are trying to define it.“ Spätestens hier drängen sich Fausts Worte an seinen Famulus Wagner auf aus der Tragödie erstem Teil von Johann Wolfgang von Goethe: „Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdets nicht erjagen.“

Voice Of The Timeless Spirit ...

What can I do to help the world
What could I do?
It is not my world.
Or at least I think it isn’t
Have I forgotten something?
Am I to blame?
Did I create this
What did I do wrong?
Why does the creation groan and suffer?
If I can help in any way
Should I?
We do not accept each other
I have so much to offer them
What do they have to offer me
They are spiritually poor. I have sympathy
For them, they have no sympathy for me.
What can I do?
I do not wish that they should think or say
I am their god but if I help them – what would
They say.
The have been
Alone so long.

Eine Quelle der Inspiration für Sun Ras Lyrik ist das Alte Ägypten, andere Quellen sind Science Fiction und schwarzer Spiritualismus. Einige Gedichte thematisieren den Rassismus, das Anderssein, das Ausgegrenztsein als Schwarzer, nicht nur in den USA.

In einem kurzen Abriß zur Lyrik Sun Ras schreibt einer der beiden Herausgeber, James L. Wolf, der sich in vornehmer Zurückhaltung als „not much more than a collector and fan of Sun Ra“ bezeichnet, daß ihn die Gedichte fasziniert hätten, weil sie so mutig und unverschämt unpoetisch seien. Und weil sie – im gleichen Maße wie seine Musik – ihn, Sun Ra, dazu verleiteten, alles, was nach einem Konzept aussieht, umzuwerfen und neu zu schreiben. Konzeptuelle Freiheit, ein gerüttelt Maß Anarchismus und der völlige Verzicht auf Bilder („images“) in den Texten – ist das tatsächlich Dichtung oder ist das als Dichtung verkleidete Philosophie, fragt Wolf. Für Sun Ra gab es da keinen Unterschied; er las seine Dichtung wie Philosophie. Am Ende seiner Ausführungen schreibt James L. Wolf, daß die Bücher in der Bibliothek Sun Ras einen Komplex bilden zu esoterischen Themen, ausgehend vom Alten Ägypten über Madame Blavatsky bis hin zu den Kompositionstechniken von Karlheinz Stockhausen. Aus diesem Themenkomplex habe Sun Ra seine Energie bezogen; durch ihn habe er sich ausgedrückt in seiner einzigartigen Weise und in der Hoffnung auf eine bessere Welt.

Eine Quelle der Inspiration für Sun Ras Lyrik ist das Alte Ägypten, andere Quellen sind Science Fiction und schwarzer Spiritualismus. Einige Gedichte thematisieren den Rassismus, das Anderssein, das Ausgegrenztsein als Schwarzer, nicht nur in den USA. Das Poem „The Visitation“ reflektiert die Erfahrungen, die Sun Ra während der 40er Jahre im Gefängnis gemacht hat aufgrund seiner Weigerung, am Militärdienst teilzunehmen. Gesetze und Regeln, sagt Sun Ra, hätten ihn schließlich zu dem gemacht, was er wurde. „And what I am, I am.“ So hat sich Herman Poole Blount in Sun Ra umbenannt und seine eigene Mythologie verkündet, daß er vom Planeten Saturn gekommen sei, wie denn auch das afroamerikanische Volk vom Saturn stamme. Bei seiner Landung auf der Erde, so Sun Ra, hätten die ehemaligen Bewohner des Saturn die Pyramiden erbaut. Wirklich frei könnten die Schwarzen erst dann sein, wenn sie wieder zu ihrem Heimatplaneten Saturn zurückkehrten.

The Visitation

In the early days of my visitation, Black hands tended me and cared for me ...
Black minds, hearts and souls loved me ...
And I love them because of this.
In the early days of my visitation,
Black hands tended me and cared for me;
I can’t forget these things.
For black hearts, minds and souls love me –
And even today the overtones from the fire
of that love are still burning.
In the early days of my visitation
White rules and laws segregated me ...
They helped to make me what I am today
And what I am, I am.
Yes, what I am, I am because of this
And because of this
My image of paradise is chromatic-black.
And chromatic-black again.
Those who segregate did not segregate in vain
For I am,
And I am what I am.

Sun Ras Einfluß auf die schwarzen Jugendlichen wird deutlich in dem Gedicht „Message To Black Youth“ aus dem Jahr 1972. Wie groß sein Einfluß auf die Entwicklung des Jazz und der Rockmusik, namentlich der Popmusik und Popkultur – für die 60er Jahre sind dies vor allem amerikanische Bands wie MC5 und die Stooges, in den 80er Jahren Sonic Youth – insgesamt gewesen ist, kann nicht hoch genug angesetzt und keinesfalls überschätzt werden.

Die gesammelten Gedichte und Prosatexte Sun Ras sind in diesem Buch in alphabetischer Reihe wiedergegeben. Ein Vorwort und die von James L. Wolf, Hartmut Geerken, Sigrid Hauff, Klaus Detlef Thiel und Brent Hayes Edwards geschriebenen Untersuchungen zu Sun Ras Lyrik sind zum besseren und tieferen Verständnis der Gedichte unentbehrlich. Herkunftsnachweise und Anmerkungen befinden sich am unteren Ende einer jeweiligen Seite. Im Anhang gibt es ein von John F. Szwed und James Jacson aufgestelltes Verzeichnis der Bibliothek Sun Ras, eine Literaturliste zu einem Kurs von Sun Ra zum Thema „The Black Man in the Cosmos“, gehalten im Frühjahr 1971 an der University of California in Berkeley (UCB), ein Quellenverzeichnis der Gedichte und der Prosatexte sowie einen Index zu den Gedichtanfängen und biographische Notizen zu den Beiträgern des Buches.