24.09.2003

Blumfeld

von Carsten Klook

Das Interview ist angesetzt am Dienstag, den 29. Juli 2003, in einer Suite des Renaissance-Hotels in der Hamburger Innenstadt, 500 Meter entfernt von der Straße, in der das Foto für das Cover aufgenommen wurde. Das Gespräch findet in der Bar statt, begleitet von Gläserklirren und Radiomusik aus Deckenlautsprechern. Die Band ist komplett anwesend.

Jochen Distelmeyer: Gesang, Gitarre
Michael Mühlhaus: Bass, Keyboards
Andre Rattay: Schlagzeug

Carsten Klook: Der Titel "Jenseits von Jedem" auf Eurer neuen, gleichnamigen Platte, schildert textlich ein Panoptikum, wie man das von Bob Dylan kennt. Ist der Song an einer Dylan'schen Schreibweise orientiert?

Jochen Distelmeyer: Nein, er orientiert sich nicht daran. Ich wollte ein Stück machen, das eine Situation schildert, wie im Film "Kinder des Olymp" von Marcel Carné, diese Anfangssequenz, und wie dann daraus eine Abendsituation wird, Party eben. Wie man das so kennt. Ich fragte dann: "Jenseits von Jedem" - was ist das für mich? Ich habe archetypische Figuren gesucht, die vielleicht auch einfach Spitznamen für Kumpels sein können und...

Carsten Klook: So ist das gedacht?!

Jochen Distelmeyer: Nein, nein, neinneinnein. Nicht nur. Es ist auch wichtig zu gucken, was sind das für Figuren. Was zeichnet die aus, diese Gestalten wie Napoleon, Arielle, Pinocchio, Ahab, Cleopatra, Sir Lancelot, Parsifal, King Lear? In welchem Verhältnis stehen die zueinander? Nach dem ich dann die dritte Strophe und den Refrain mit den Akkorden hatte, dachte ich, hm komisch, das kommt mir doch auch irgendwie bekannt vor, klar, das ist ja so'n Style, wie der das auch zu einer bestimmten Phase gemacht hat. Und dann habe ich mir Gedanken darüber gemacht, warum hat der das so geschrieben.

Carsten Klook: Wie bei "Gates of Eden" zum Beispiel. Dieses Panorama von historischen Figuren, in deren Mitte sich dann der Erzähler bewegt und das Geschehen beobachtet. Passt ja auch wegen des Titels.

Jochen Distelmeyer: "Gates of Eden"? Irgendjemand meinte auch "Desolation Row". Das ist eine Schreibweise bei ihm gewesen, die setzt an einem bestimmten Punkt ein. Und ich habe mir überlegt, um auch mehr zu wissen, wie ich das mache, immer vor dem Hintergrund: okay, das schwebt durch die Luft, das hat ja irgendeine Berechtigung, da muss ich mich nicht rechtfertigen, absetzen, oder das legitimieren, sondern das schien mir richtig zu sein, jetzt einen Song so zu machen, auch für diese Platte...

Carsten Klook: Der Titel ist das Zentrum des Albums geworden, oder wie seht Ihr das?

"Ich habe mir überlegt, wieso hat jemand wie Dylan diesen Schreibstil für sich entwickelt, und was ist daran - möglicherweise - noch nicht richtig ausgearbeitet."

Jochen Distelmeyer: Ja, liegt nahe, mit fast 15 Minuten Länge. Auch, weil das Thema des Stücks in anderen Songs auftaucht. Ursprünglich war da die Idee, eines Tages, da hatte ich beim Arbeiten des Textes gedacht, das ist ein Song aus Songs bestehend: Im Zentrum des Zweifels / Schlafender Blitz / Alles macht weiter / Jenseits von Jedem... Und ein paar Stücke existierten vorher schon. Dann gab es die Musik zu "Alles macht weiter" ...

Carsten Klook: "Alles macht weiter" ist natürlich von Rolf Dieter Brinkmann.

Jochen Distelmeyer: Wusste ich, dass das noch kommt... da ist es ähnlich. Das ist vielleicht 18 Jahre her, dass ich das gelesen habe. Das nimmst Du dann so mit, genauso wie du halt bestimmte Dylan-Platten gehört hast.

Carsten Klook: Dein Text ist aufgebaut, wie der von Brinkmann (in "Westwärts 1 & 2", Gedichte, 1975). Aber Deiner hat mehr Stakkato.

Jochen Distelmeyer: Das ist auch ein Vorwort, wie ich es in Erinnerung habe. Ein Fließtext und kein Gedicht. Ich dachte einfach daran, eine Aufzählung zu machen, wie bei "Testament der Angst", und dazu dann zu spielen. Als wir auf Interviewtour gefahren sind, meinte Olli (der Manager): "Im Internet wird schon darüber diskutiert, ob das ein Brinkmann-Zitat oder -Bezug ist". Das macht es natürlich schwierig für mich jetzt, das zu besprechen, weil: Es ist kein direkter Bezug. Das ist eingegangen genauso wie "Yesterday" oder so ...

Carsten Klook: Aber das ist ein direkter Bezug ...

Jochen Distelmeyer: Ja gut, wenn man die jetzt nebeneinander legt, die Dinger. Das lässt sich ja nicht leugnen, dass da irgendwie ein Zusammenhang besteht. Aber der ist nicht intendiert.

Carsten Klook: Anke Engelke und Stuckrad-Barre sollen ja gesagt haben, dass ihre Vorliebe für R. D. Brinkmann sie verbunden hat. Ich meine das nur, zur Rezeption und Bedeutung von Brinkmann heute.

Jochen Distelmeyer: Ist ja eine schlechte Voraussetzung für eine Beziehung. Sind die nicht schon wieder auseinander?

Carsten Klook: Ja. Angeblich.

Jochen Distelmeyer: Hat für mich jetzt aber keine weitere Bedeutung. Okay, bei "Jenseits von Jedem" ist das so ähnlich, nur dass da mehr Vorüberlegung war, was das Stück sein soll, von der Erzählung her und welche Figuren auftauchen sollten. Ich habe mir überlegt, wieso hat jemand wie Dylan diesen Schreibstil für sich entwickelt, und was ist daran - möglicherweise - noch nicht richtig ausgearbeitet. Oder hat der nur die Bildungsmaschine, eine Nebelkanon Bildungsmaschine angeschmissen und ...

Carsten Klook: Das war damals angesagt ...

"Okay, klar. Man kann, wenn man das theologisch-religiös liest, zu einem bestimmten Ergebnis kommen. Man kann es aber auch so lesen: [...]"

Jochen Distelmeyer: Ja, aber ich finde das schon ausführlicher, wie er das gemacht hat. Man muss genauer nachgucken, was diese historischen Figuren wirklich ausmacht. Das ist mehr, als dass man nur bekannte Namen nennt und dann flasht es da. Das kann zwar für eine Intensität sorgen, oh cool, geil, und dann noch mal den nennen und dann taucht da noch ein anderer Heini auf ...

Carsten Klook: Es geht halt darum, dass man sich in einen historischen Kontext setzt, als Sänger, und sich verankert.

Jochen Distelmeyer: Gut, aber das sagt ja unter dem Strich nur "Ich". Das ist für mich nicht das Interesse bei einem Stück wie "Jenseits von Jedem" gewesen. Sondern: Was kann das heißen, wenn Pinocchio und Ahab genannt werden? Welche Verwandtschaft besteht da zwischen denen? Und dafür wird ja mehr als nur zwei Zeilen Platz gelassen. Es wird ja versucht, zu erzählen, was da für ein Bezug herrscht.

Carsten Klook: Was ich in diesem Zusammenhang interessant finde, ist die Passage "Der Jesusfreak stellt Gott zur Rede: Du hast Dich ganz schön rar gemacht / Gehst mir nichts Dir nichts Deiner Wege / Was hast Du Dir dabei gedacht? / Wo Du erschufst, kannst Du nicht weichen / Stattdessen wirfst Du alles hin / Auch Du mußt Deine Schuld begleichen / Sonst macht das alles keinen Sinn!" Das hört sich an, wie eine Kritik an Gott. Was ist jetzt Dein Anteil daran? Mit anderen Worten: Wie stehen sie zum Christentum, Herr Blumfeld. Sozusagen.

Andre Rattay: Wird die Frage in der Textzeile aufgeworfen? Also das ist doch eine Figur, die da spricht...

Carsten Klook: Ja, aber die hat einen Vorwurf an Gott.

Jochen Distelmeyer: Okay, klar. Man kann, wenn man das theologisch-religiös liest, zu einem bestimmten Ergebnis kommen. Man kann es aber auch so lesen: Der Fan einer bestimmten Ikonisierungs-Figur, der Fan von so einem Typen, stellt den, oder seinen Vorläufer, zur Rede. Und dieser Supertyp, der steht für ein bestimmtes Prinzip. Wenn man jetzt an eine monotheistische Figur dabei denkt. Und der Freak-Fan erwartet sich eine einfache Antwort. Die Dinge bleiben aber kompliziert, es tut sich nichts. Entweder hat der nichts dazu zu sagen, der so Angerufene. Oder den gibt's gar nicht.

Carsten Klook: Also ist das ein Textarrangement. Identifizierst Du Dich mit dem Sprecher dieses Textes?

Jochen Distelmeyer: Nein, nicht zwangsläufig. Manchmal erkenne ich mich in bestimmten Figuren, die da auftauchen, wieder. Ach klar, da war ich auch so drauf, wie ... Bei anderen Figuren sind auch wieder andere gemeint. Also gut. Wenn man es jetzt theologisch-religionswissenschaftlich liest, ich weiss nicht wie ich das sagen soll, also jetzt "christlich", ist das so.

Carsten Klook: Ein Vorwurf an Gott? In der Platte steckt viel von dieser Tendenz drin, unausgesprochen. Aber da ist sehr viel Sehnsucht ... nach Humanität, das ist klar. Nicht unbedingt im theologischen Sinne. Aber dann gibt es auch eine Textzeile (in "Wir sind frei": Wer frei sein will, hat keine Wahl / Wir müssen uns entscheiden / Und manche sagen: Der Typ gehört in Therapie / Kann sein, doch um mich weht ein Hauch von Anarchie"), wo bei mir die Frage aufkommt: Befreit Anarchismus von Therapie?

"Ein Film wie "Matrix" löst dieses Problem für meine Begriffe reaktionär."

Jochen Distelmeyer: Neinnein, neinneinnein! Nein. Okay, noch mal zu dieser Gottgeschichte zurück. Das kann jetzt aber ein bisschen länger dauern. Was da ab und an auf dieser Platte auftaucht, sind Schöpferfiguren, denen Weltschöpfung zugesprochen wird. Gott ist ja auch einmal so gesehen worden. Mich hat auf der einen Seite die Verbindung zwischen dem Souverän, einer Herrscher-, Königs-, Schöpfer-Figur und seinem, wenn man so will, armen Irren interessiert. Das Stück "Armer Irrer" ist ja derselbe Text wie "Sonntag", nur aus einer anderen Perspektive, über diese Art von Verbindung. Später taucht King Lear auf, wo ja genau dieser Switch stattfindet, wo der Souverän durchdreht und ein Outlaw, Landstreicher, durchgeknallter Typ ist. So, das kann man sich angucken, was diese Geschichten zu erzählen haben, für die Gegenwart. Und, was auf der letzten Platte ab und an thematisch auftauchte, Gentechnologie beispielsweise, oder die Sehnsucht nach dem perfekten Menschen und die Arbeit an ihm. Egal, ob es um Robotik oder um Gentechnologie geht, da wird der Versuch unternommen, den perfekten Menschen zu schaffen. Das ist die Verheißung, am Ende. Und ich habe mich an einem bestimmten Punkt - und ich weiß nicht, ob das jetzt mit der Platte zu tun hat - gefragt: Okay, was ist, wenn der dann wirklich da ist? Dem muss man in gewisser Hinsicht auch Würde oder so etwas zusprechen. Man geht dann ja davon aus, dass er beseelt ist, aber ohne die Probleme, die wir damit haben, dass wir beseelt sind. Denen muss man rechtlich, wenn dann mehrere davon diese Erde bevölkern, Würde zusprechen und irgendwie rechtlich einordnen. Sodass sie einen vergleichbaren Status haben, wie Menschen. Und das, was ja auch durch diverse Science fiction Filme - jetzt kommt Terminator 3 raus - geistert, die Szenarien, die da beschrieben werden, sind für mich nicht zwangsläufig. Aber sie sind auch vorstellbar, dass ein Konkurrenzkampf ausgefochten wird, um die Vormachtstellung, diesen Planeten zu bewohnen und zu beleben. Ein Film wie "Matrix" löst dieses Problem für meine Begriffe reaktionär. So etwas wie Altes und Neues Testament löst es ziemlich smart, dieses Problem, wie sich der Schöpfer zu seinen Geschöpfen verhält. King Lear handelt auch auf eine Art davon. Der versucht, Platz zu machen, die Bühne freizumachen für seine Töchter - bei Kurosawa sind es die Söhne - und dreht darüber durch, verliert sich selber. Im Alten und Neuem Testament, das man ja auch wie einen Entwicklungsroman eines Protagonisten lesen kann, unabhängig davon, ob man daran glaubt oder nicht, sieht man jemanden mit einem ähnlichen Problem konfrontiert. Nur, dass der, wie ich finde, einen relativ smarten Ausweg findet. Dieser in Teilen herrschsüchtiger, tyrannischer Protagonist, der die Menschen - seine Geschöpfe - für Lappalien unverhältnismäßig sanktioniert. Ob das jetzt schmerzhafte Regelblutungen für die Frauen sind, die er da mal kurz so ausgeteilt hat, ob es Verwüstungen und Heuschreckenplagen sind, nur weil der eine weiß-ich-nicht-was getan hat. So. Dieser Typ wird am Ende des Alten Testaments, also nach jüdischer Editierarbeit, Hiob ist da das letzte Buch, in so 'nem Battle, Streitgespräch, zum Schweigen gebracht. Der hat dann nicht die Argumente. Und diese Figur taucht dann, als Menschwerdung, als er selber auf eine Art, wieder auf und verhält sich auf einmal ein bisschen anders, als vorher. Er sagt nicht mehr: Ich werde alle Feinde Israels und der Juden strafen und vernichten. Sondern er sagt: Ich bin der Gott aller Menschen. Weil er weiß .... vielleicht hat er auch keinen Bock mehr, oder er hat selber drüber nachgedacht, dass das Scheiße ist, sich so zu verhalten. Vielleicht, weil er weiß, er kriegt's nicht gebacken. Das kann man schon mal als relativ geschickten Winkelzug bezeichnen. Dass er dann ausruft: Liebe Deinen Nächsten, wie Dich selbst! Das ist für mich auch ein guter Satz, ob ich an Gott glaube oder nicht. Und dann kann man eben das, was mit Jesus als Opferlamm - so wird er ja von vorneherein eingeführt - der ist nur für diesen Moment da, dass er dann am Kreuz hängt und aufersteht, oder unerkannt oder erkannt durch die Gegend tapert, da kommt er runter. Das habe ich ab einem bestimmten Punkt so gelesen, dass Gott sich da an sich selbst rächt. Denn wer sollte Gott und die Schuld, die er auf sich geladen hat, zur Rechenschaft stellen?! Das leistet er an sich selber. Ja ... und er schmeckt Sterblichkeit. Also, nach Superstar- oder Ikonisierungskriterien: sehr smarter Abgang. Er gibt die Bühne frei. Und ist dann seitdem nicht mehr aufgetaucht. Diese Geschichte hat mich eben vor dem Hintergrund interessiert, wie stellen wir uns dann einem möglichen Szenario? Gehen wir dann, wie beim Terminator, hin und ziehen in den Krieg und wollen dann ausfechten, wer die Vormachtstellung übernimmt? Das ist jetzt nur so eine sehr ausführliche Fußnote, die für das Album nicht soo gewichtig ist, aber an Stellen wie "Sonntag", "Armer Irrer", oder "Jesusfreak stellt Gott zur Rede" (in "Jenseits von Jedem"), taucht das auf. Für mich jedenfalls ist das darin enthalten. Und so kann ich auch sagen, dass alle religiösen Texte, und diese ganzen Ansätze, die es gibt - ob es Hinduismus ist, oder Judentum - für mich Ausdruck einer Sehnsucht sind, eines großen Versuchs, aufgeteilt in unterschiedliche Ritualisierungen und Disziplinen. Und so kann man all diese Texte, die es dazu gibt und alle Archive, finde ich, erkenntnisbringend durchstöbern. Weil da sind über Jahrhunderte, Ewigkeiten, zentrale Probleme abgehandelt.

Carsten Klook: Abgesehen von der Ikonisierung: Kannst Du mit dem Theologen und Psychoanalytiker Eugen Drewermann etwas anfangen?

Jochen Distelmeyer: Nein. Ich kenne mich nicht wirklich mit dem aus. Wenn ich den im Fernsehen sehe, das ist mir schon... das ist eine ganz sublime Art von Despotie, die mag ich nicht. Aber ich kenne mich nicht wirklich aus mit dem.

Carsten Klook: Despotie? Naja, ich erwähnte ihn nur, um das von Dir Gesagte mit seiner Form der Kirchenkritik in Verbindung zu setzen.

Jochen Distelmeyer: Am Ende der Platte wird Gott auch ein lieber Mann sein gelassen. Der auch sein Scherflein hat.

Carsten Klook: Der Paradigmenwechsel, der auf "Old Nobody" noch schockierend wirkte, auf mich jedenfalls, scheint auf der neuen Platte zu einem harmonischen Abschluss gekommen zu sein. Ist etwas abgefallen von Dir, von Euch? Vielleicht etwas, das auf der neuen Platte mit "Es gibt kein Müssen und kein Sollen, wenn wir nicht wollen. Die Zeit der Heuchler ist vorbei und ihrer Tyrannei" beschrieben ist? (Aus "Wir sind frei"). Was sind das für Heuchler, von denen die Rede ist? Hat das einen gegenwärtigen Bezug? Oder ist das eine Erfahrung aus den letzten zehn Jahren?

Jochen Distelmeyer: Ich kann keine wirklichen Paradigmenwechsel wahrnehmen, in dem was wir als Band machen. Für mich war das immer mit individuellen Veränderungen gekoppelt, aber die laufen nicht synchron mit Andres und mit Michaels. Das mischt sich auf unvorhersehbare Art und Weise. Insofern kann ich von Paradigmenwechsel bei uns nicht wirklich sprechen. Diese Passage, die du gerade zitiert hast ... wo war das denn schon mal ... da ist mir ein altes Stück eingefallen ...
mmh: "Als Lügner gefiel ich Dir besser". Da taucht das Thema ja schon auf (aus: "Penismonolog" vom Debütalbum "Ich-Maschine").

Carsten Klook: Das habe ich damals nicht so gelesen.

"Ich denke eben, dass die Linke als eine politische Kraft jenseits des Parteienspektrums die Mauer überwinden muss, die im Laufe von Jahrzehnten unsichtbar um sie errichtet worden ist. Da hat eine Gleichsetzung stattgefunden."

Jochen Distelmeyer: Ich auch nicht, aber ich finde das auch mit den Heuchlern nicht so, sondern ich habe einfach gedacht: Ich habe nichts gegen Lügen. Es gibt ja schöne Lügen, oder es gibt Leute, die sogar die Wahrheit sagen, wenn sie lügen. Und das geil aussieht und schön ist und irgendwie stimmt. Also, um das vielleicht noch mal von der letzten Platte ("Testament der Angst") zu präzisieren... obwohl, wie gesagt. Ich habe dort gesungen: "Ich hab genug von Euren Lügen". Die sind mir nicht schön genug, oder gerecht genug. Da ist das noch etwas genauer gefasst. Heuchelei ist ja noch etwas anderes. Ein Heuchler ist jemand, der selber nicht an seine Lügen glaubt.

Carsten Klook: Das Wort "Heuchler" klingt in dem Zusammenhang für mich, als gehe es um gegenwärtige politische Entwicklungen. Um etwas, was passiert ist, was vorher Druck gemacht hat, von dem man sich jetzt befreien kann. Geht es darum, sich von linker Heuchelei zu befreien? Oder ist das ein Bekenntnis zur Links-Radikalität, die jetzt nicht mehr notwendig ist, oder anders notwendig im Vergleich zu früher?

Jochen Distelmeyer: Ich weiss nicht, ob die nicht mehr notwendig ist. Also ich sehe, was der Song auch sagt, dass es eine kleine Utopie ist: Wir sind frei. Dieses aber auch auf eine Art verschmitzt-verschwobbelt sagt, dass man denkt: Gut, wir sind frei, damit sind wir begabt. Trotzdem ist es aber auch abhängig davon, dass wir uns entscheiden. Also, was noch nicht eingetreten ist: es ist beides gleichzeitig. Und es ist wie eine Anrufung: Hey! Wenn wir das wollen, dann ist die Zeit der Heuchler vorbei. Dann folgen auf bestimmte Gestalten, die in den letzten Wochen durch die Medienlandschaft als Heuchler abgestraft worden sind, oder, die die Erde wieder hat, andere. Das ist nur eine Möglichkeit. Ich denke eben, dass die Linke als eine politische Kraft jenseits des Parteienspektrums die Mauer überwinden muss, die im Laufe von Jahrzehnten unsichtbar um sie errichtet worden ist. Da hat eine Gleichsetzung stattgefunden. Wenn irgendwo Asylantenheime von Neonazis in Brand gesteckt worden sind, dann wurde in der Presse und in den Parlamenten immer von links- und rechtsradikaler Gewalt gesprochen .... das ist doch eine bodenlose Unverschämtheit. Dass das mit Absicht so formuliert wird, liegt für mich auf der Hand. Das war keine linksradikale Gewalt, die definiert sich ganz anders. Durch diese New Speek-mäßigen Parolen "Krieg ist Frieden", "Geiz ist geil", "Friendly fire" oder "Freiheit, Musik bedeutet Unterwerfung, Disziplin, Züchtigung unter Zuhälter-Kriterien" (?). Diese Aussagen sind Teile einer unsichtbaren Mauer, die errichtet worden ist: Linksradikal ist gleich Nazis. Und die es schwierig gemacht hat, das zu überwinden. Sondern eher zu selbstzerfleischenden Slogans führte, wie "Du bist auch nicht besser als die". Neben allem, was vielleicht inhaltlich richtig daran sein mag. Ich habe jetzt die Hoffnung, dass in der Situation, auf die wir uns zu bewegt haben und die jetzt da ist, dass einem der Arsch auf Grundeis geht und die Leute merken, was ihnen hier eigentlich zugemutet wird. Ich habe die Hoffnung, dass der Moment gekommen ist, in dem ein Bewusstsein dafür geschärft ist und die Leute auch das einfordern, was sie wollen.

Andre Rattay: Ich glaube auch, dass wir jetzt gerade an so einem Punkt sind. Das spiegelt sich auch gerade an so einem Song wider, dass Freiheit nicht die Verwaltung der Möglichkeiten ist, sondern die Einsicht in die Notwendigkeiten. Und wenn man da angekommen ist, ist es befreiend.

"[...] da reicht ein Blick dahin, dass dort, wo Millionen von Menschen an Aids sterben, Medikamente vorenthalten werden, weil sie die von der Pharmaindustrie aufgestellten Preise nicht bezahlen können."

Jochen Distelmeyer: Wenn man es eben so versteht, dass die ganze, ich nenne das mal so, Jammerei mit einem es-nicht-wahrhaben-wollen zu tun hat. Es nicht wahrhaben wollen, dass dieses System, das ökonomische und parlamentarisch-politische System den eigenen Ansprüchen entsprechend, nicht in der Lage ist, das zu gewährleisten, womit man angetreten ist: gerechte Verteilung, Zugang für alle zu den Bildungsmöglichkeiten, medizinische Grundversorgung. Das muss gar nicht mit der Bürgerversicherung anfangen, da reicht ein Blick dahin, dass dort, wo Millionen von Menschen an Aids sterben, Medikamente vorenthalten werden, weil sie die von der Pharmaindustrie aufgestellten Preise nicht bezahlen können.

Andre Rattay: Vielleicht könnte man es schaffen, einzelne Länder zu zwingen, dass Pharmafirmen dort in Afrika oder Südamerika eingreifen.

Jochen Distelmeyer: Meine Befürchtung aber ist, dass, wenn Leute sagen, sie engagieren sich bei Attac oder bekennen sich zu "fairem Handeln", was immer das sein soll, dass das in eine ganz andere Situation umkippt. Nämlich, dass genau das Bedürfnis hochgekocht worden ist: Wo ist er, der Auserwählte?! Wo ist Harry Potter? Wo ist Frodo Beutlin (junger Hobbit aus dem "Herr der Ringe")? Wo ist Ronald Barnabas Schill? Wo sind die? Ich meine das jetzt gesamtgesellschaftlich. Aber dieses in-der-Erwartung-sein ... ist ... gefährlich.

Carsten Klook: Ich wollte wissen, was Du mit den "Heuchlern" genau meintest. Okay.

Carsten Klook: Wie verhält sich das Stück "Der Sturm" auf dem neuen Album "Jenseits von Jedem" zu "Der Wind" auf "Testament der Angst"? Ich meine das jetzt musikalisch. Um nicht nur Fragen zu stellen, die sich auf die Texte beziehen.

Jochen Distelmeyer: Das Schöne ist ja gerade, dass bei "Der Sturm" genau etwas stattfindet, wo man sofort auch auf die Musik zu sprechen kommen kann. Als ich "Der Wind" fertig geschrieben hatte, dachte ich, ich schreibe danach ein Stück, wo es um Sturm geht. Noch ohne genau zu wissen, jenseits von dem, was man allerorts in den Nachrichten an Sturmbildern beobachten kann, also dass dieser Sturm durchdreht. Und dann passierte halt, unabhängig von dieser Absicht, oder nicht bewusst, dieses Stück in Gitarrenakkorden und ich stellte fest, ach so, das ist ja der Sturm. Und das lässt sich auch so spielen, wie ein Sturm. Als ich damit in den Proberaum kam, habe ich versucht, das so zu erklären und dann haben wir das dann gemeinsam hinbekommen, dass es musikalisch auch wirklich stürmt. Es ist nicht einfach zu spielen. Wo setzt Du die Ruhe an? Welche Ruhe ist das? Wie kannst Du die Ruhe spielen zum Punkt, wo du den Sturm noch nicht ahnst, aber in der nächsten Strophe sollst Du es ahnen (macht Zischgeräusche) ... da ist schon was da. Das ist natürlich auch eine Herausforderung, der man sich als Triobesetzung stellen kann. Ein großer Vorteil, wenn man zu dritt spielt, was wir schon sehr gut kennen, weil wir so angefangen haben, ist eine gewisse Dichte, abhängig von der Entscheidungsfreudigkeit im Spiel, wo Du Verbindlichkeit herstellen kannst. Du kannst dich im Trio nicht wegducken, oder verstecken und Dir Deine Stelle woanders suchen, wo Du dann abgehst. Sondern: Du bist die ganze Zeit gefordert, damit es gelingt, das Stück. Was bei "Der Sturm" natürlich exemplarisch eine interessante Herausforderung ist: Wie stellt man zu dritt Ekstase her? Das ist schwierig zu dritt. Ich finde es beim Quartett einfacher dadurch, dass mehr Geräusch, mehr Sound spielbar ist, in den Du Dich fallen lassen kannst.

Carsten Klook: Man muss sich mehr zurücknehmen, wenn man zu viert spielt, mit zwei Gitarren zum Beispiel. So kenne ich das jedenfalls. Man braucht mehr Disziplin zu viert.

Jochen Distelmeyer: Ja, wenn Du auf Song spielst, dann ja, das ist sicherlich ein Vorteil beim Trio. Was seit "Verstärker" (Hit und Video von "L'État et moi", dem zweiten Album) über all die Jahre Wissen ist: Ab einem bestimmten Punkt kannst Du loslassen und I H N spielen lassen (powpowpow, macht heftige Armbewegungen), und das finde ich toll bei "Der Sturm", wie das funktioniert.

Carsten Klook: Sind die Kompositionen am Klavier entstanden oder an der Gitarre?

Jochen Distelmeyer: An der Gitarre.

Andre Rattay: Das ist doch das Instrument mit dem ... (bewegt die Schultern und Hände und spielt Airpiano). Lachen

Carsten Klook: Wie kommt Ihr damit zurecht, wenn Euer neuer Clip zur Single "Wir sind frei" bei "Fleischmann TV" auf Viva halb verdeckt wird von Gerede und Cartoon? Man sieht und hört ja nur Fetzen. Habt Ihr das gesehen?

Band: Nein

Jochen Distelmeyer: Das ist ja wohl die Idee dieser Sendung.

Carsten Klook: Wenn man so ein Produkt abgibt, will man dann nicht, dass die Zuschauer es auch richtig zu sehen bekommen?

Jochen Distelmeyer: Nein. Dann ist man froh, dass das Video, an dem ja auch viele Leute gearbeitet haben und für das viel Geld bezahlt wurde, dass das den Sinn und Zweck erfüllt und man es auf einer anderen Ebene präsentieren kann. Dass es zeigt, wer wir sind und was das Stück ist. Okay, das war jetzt das Video, wo wir nicht so am Start waren oder ich das nicht machen durfte, seitens der Band. Sondern, wo wir gesagt haben: Lasst uns das mit Sebastian Schulz noch mal machen, der schon "Wellen der Liebe" gedreht hat. Loslassen. Lachen.

Michael Mühlhaus: Ja, wir haben Dich angekettet.

Jochen Distelmeyer: Ach ja, stimmt, ja genau. Und ich erlag der Illusion, es wäre ...

Andre Rattay: Einsicht in die Notwendigkeit war das.

Michael Mühlhaus: Ach, so legst Du das aus. Jetzt hab ich das verstanden.

Andre Rattay: Aber es ist ja ohnehin so in den Medien: Star ist nicht das Video, sondern immer das Format, das die Videos präsentiert. Insofern ist es nicht so ein großer Unterschied zu anderen Sendungen.

Carsten Klook: Bei Fleischmann ist es nur noch extremer. Bei Beavis and Butthead fand ich das ja auch ganz lustig. Aber das in der deutschen Version/Übertragung funktioniert so nicht für mich.

Andre Rattay: Ist es wirklich so ein großer Unterschied zu Alexandra auf MTV?

Carsten Klook: Ich hatte das Gefühl, in dieser Verhunzung kann man sich das nicht mehr angucken.

Jochen Distelmeyer: Ich hab's noch nicht gesehen. Ich glaube auch, dass diese Form der Verhunzung charakteristisch ist für die Idee von Musik im Fernsehen.

Alle: Ja

Jochen Distelmeyer: Finde ich auch weniger heuchlerisch, es so zu machen als zu sagen: "Hey, wer seid Ihr denn? (Äfft mit hoher Stimme ein junges Mädchen nach). Ihr könnt auch anrufen. Jetzt ist hier das und das und das im Studio".

Carsten Klook: Wie ist es jetzt eigentlich mit den drei Bläsern (Lieven Brunckhorst: Saxofon, Querflöte / Claas Überschaer: Trompete, Flügelhorn / Sebastian John: Posaune) innerhalb der Band? Werden sie "extern gehandhabt"? Oder seht Ihr sie als Bandmitglieder?

Jochen Distelmeyer: Sehen wir, glaub ich, nicht als Bandmitglieder, auch wenn wir die Typen supergut finden.

Michael Mühlhaus: Und gerne dabei hätten.

Jochen Distelmeyer: Aber das ist dann halt für drei Stücke oder so.

Carsten Klook: Also sind sie auf der Tour jetzt nicht dabei.

Jochen Distelmeyer: Wahrscheinlich nicht. Lieven war ja wegen des Songs "Graue Wolken" auf einer Tour die ganze Zeit dabei. Das ist, auch wenn es für uns geil ist und auch ihm Spaß gemacht hat, schon ein bisschen merkwürdig. Er sitzt dann quasi anderthalb Stunden lang backstage und kommt für Vierminutendreißig und zwei Soloparts auf die Bühne.

Carsten Klook: Immer noch besser, als bei Placebo, wo der zweite Gitarrist hinter der Bühne spielt, damit es so aussieht, als wär's ein Trio.

Jochen Distelmeyer: Nein! Oh, wie ätzend ist das denn?! Bei den Stones war der Pianist auch so'n Typ, oder Ich erinnere mich auch an die Michael Schenker Group, als Michael Schenker ...

Carsten Klook: Das war nach UFO.

Jochen Distelmeyer: Genau. Also, der jüngere Bruder von Rudolf Schenker, der bei den Scorps (verdreht die Zunge und meint Scorpions) in Lohn und Brot steht, der war halt 'ne Zeitlang so auf Show und hat sich die ganzen Soli von 'nem Typen backstage spielen lassen, und Michael Schenker wurde dann gefilmt. Egal.

Michael Mühlhaus: Wenn's technisch möglich ist ...

Jochen Distelmeyer: Jetzt gibt's auf der Platte zwei Stücke, wo richtig mit drei Bläsern gearbeitet wird. Und einen kannst Du halt noch fragen, ob er Bock hat, nur für zwei Stücke auf Tour mitzufahren. Aber bei drei Leuten finde ich es ein bisschen undankbar, wenn die dann da sitzen.

Andre Rattay: Obwohl: Die können Skat spielen.

Jochen Distelmeyer: Gut.

Carsten Klook: Ich habe Dich, Jochen, bei einem Cpt. Kirk-Auftritt in Husum Trompete spielen sehen. Spielst Du das Instrument noch?

Jochen Distelmeyer: Nein. Das spiele ich schon länger nicht mehr. Aber... ich habe auch kurz gedacht, das Trompetensolo bei "In der Wirklichkeit" selbst zu spielen, aber dafür fehlt mir dann doch das Training und der Ansatz. Diese Melodien waren immer Gesangsmelodien, wo man dann überlegt hat: Was ist das jetzt? Ah, das ist ein Trompetensolo und da kann man ja naheliegenderweise keine Harfe einsetzen, sondern, klar: Brass.

Carsten Klook: Das Stück "Neuer Morgen" ist ja ein sehr therapeutisches Lied. Das kann man so lesen, als wäre es geschaffen für jemanden, der schwer an Melancholie erkrankt ist und dem spielt man das dann vor. Ist das jetzt so geplant gewesen, als Statement zur Zeit, als Metapher für einen gesamtgesellschaftlichen Seelenzustand? Oder ist es so, dass das Lied auch an Dich gerichtet ist und Du Dich als Gegenüber einsetzt?

Jochen Distelmeyer: Auch, ja. Nicht wirklich, aber bestimmt eher, als dass es eine gesellschaftliche Befundsache ist. Ich habe selbst die Erfahrung gemacht: Und wenn Du denkst, es geht nicht mehr ...

Carsten Klook: Lachen. Das wirkt auf jeden Fall. Ich finde es ja klasse, weil: Ich brauche auch Zuspruch, sozusagen. Und der kommt auch in diesem Song.

Jochen Distelmeyer: Ja, ich habe mich selber auch gewundert, als ich dachte: Okay, also, wenn das so und so und so ist, was geht eigentlich noch? Gib nicht auf! So komisch das jetzt auch klingen mag, aber ich kenne das auch von mir: "Gib nicht auf! Es kommt ein neuer Morgen. Lass es raus! /den Schmerz und Deine Sorgen / Mach Dich frei - von allen falschen Zwängen / Nimm Dir Zeit und lern Dich selber kennen." Ja, dem kann ich nur zustimmen. In dem Moment, in dem ich es aufschreibe, ich finde das richtig. Egal, wie das klingt, ich finde es richtig.

Carsten Klook: Das ist psychotherapeutisch einwandfrei und auch in sich stimmig.

Jochen Distelmeyer: Lachen. Ach so, okay. Das ist gut, wenn es von außen noch mal bestätigt wird.

Carsten Klook: Danke für das Interview.

Band: Wir danken.