anticon
20.06.2001

ANTICON

von Christian Meyer

Das Hip Hop-Label Anticon (anti-conventional; anti-conformity) steht sowohl mit seiner Begeisterung für das Internet, als auch mit seiner Soundauswahl und den verhandelten Issues alleine auf weiter Flur.

Zu dem Zeitpunkt hat sich bereits so viel kreatives Potential angesammelt, das zwei Tage genügen, um ein komplettes Album einzuspielen.

Bei dem in der Bay-Area ansässigen Hip Hop-Label Anticon (das mit der Ameise!) sollte man vor allem auf das Internet setzen, um an Informationen zu gelangen. Nicht nur, weil alle anderen Versuche der Kontaktaufnahme für diesen Artikel scheiterten, sondern weil das Label schon des öfteren den Stempel "Internet-Hip Hop" aufgedrückt bekommen hat. Und das liegt nicht daran, daß sich hier ein haufen Computer-Nerds an Hip Hop versucht, sondern an der ganz eigenen Geschichte des Labels.

Die Geschichte von Anticon beginnt nicht in New York, Los Angeles oder San Francisco, sie beginnt überhaupt nicht an einem bestimmten Ort, sondern an vielen (mindestens 6) realen und einem virtuellen: dem Netz. Quer über die USA verstreut, in der Provinz als white-middle-class twens feststeckend, leiden unsere Helden Sole, Dose One, Alias, Pedestrian, Jel und DJ Majonnaise daran, weit und breit keine Wesensverwandten für ihre je ganz persönliche Version von Hip Hop zu finden. Soles wichtigster Kontakt zur Welt jenseits von Maine wird das Internet, in dem er auch seine ersten musikalischen Gehversuche öffentlich zugänglich macht.

Nach und nach knüpft er Kontakte, das erste gemeinsame Treffen mit einigen dieser Kontakte findet allerdings erst 1998 statt. Zu dem Zeitpunkt hat sich bereits so viel kreatives Potential angesammelt, das zwei Tage genügen, um ein komplettes Album einzuspielen. "We whoop out like 30 Songs in 20 minutes..." (Sole) "...like a CD burner" (Dose). Die Beteiligten Sole, Alias, Slug, Dose One und DJ Mayonnaise nennen sich Deep Puddle Dynamics. Um das Album nicht im luftleeren Raum verpuffen zu lassen, wird schnell das Label Anticon gegründet und die einführende Label-Compilation "Hip Hop for the advanced listener" mit unveröffentlichten Solo-Tracks (bis dahin hatte lediglich Dose One seine hervorragende LP ‘Hemispheres’ auf Vinyl veröffentlichen können, Slug mit seiner Crew Rhyme Sayers veröffentlicht und DJ Majonnaise mit den 1200 Hobos) unserer nun vereinten Freunde erscheint. Trotz des segensreichen Internets entschließt man sich, den persönlichen Kontakt zu vereinfachen. Sole, Jel, Alias und DJ Majonnaise, alle noch in der ersten Hälfte der 20er, ziehen gemeinsam in ein Loft mit Studio in East Oakland. Ja, die Bay-Area mußte es schon sein! Und das, obwohl keiner der Anticonler aus der Region stammt. Doch hier ist schließlich die wahrscheinlich experimentierfreudigste und aufgeschlossenste Hip Hop-Community überhaupt anzutreffen (hier sind Stone Throw, Quannum, Living Legends, Massmen, Invisbl Skratch Piklz u.v.m. ansässig). Kompletter Neustart.

Obwohl die nun geographische Bündelung der Kräfte die Zusammenarbeit deutlich vereinfacht, bleibt das Internet für Anticon von größter Bedeutung. Man ist mit einer eigenen Web-Site präsent, auf der neben Label-Infos (Diskographie, anstehende Veröffentlichungen, Infos zu den Künstlern) auch zahlreiche Links zu Artikeln und Interviews – u.a. in Internet-Hip Hop-Magazinen (z.B. ‘Forever’ oder das interaktive ‘Undergr(s)ound Magazine’, wo Anticon im Sommer zur beliebtesten Crew gewählt wurde!)– zu finden sind. Anticon planen auch MP3 only Produktionen ins Netz zu stellen, um eine solche Entwicklung zu unterstützen. Daneben, und weniger selbstlos, ist das Internet Teil einer Markt-Strategie, mit der man gegen die Industrie, aber auch gegen die großen ‘Independent’-Labels und Vertriebe wie Rawkus oder Fat Beat bestehen möchte. Inzwischen läuft ein drittel der Plattenbestellungen von Anticon über das Internet.

Strictly Business? Zurück zur Musik: allen bisherigen Anticon-Projekten ist gemeinsam, das sie den momentanen Hip Hop-Attributen einiges entgegenzusetzen haben: statt fetter Beats und Sounds hört man rhytmische Brüchigkeit und Disharmonien. Statt Funk- und Soul-Samples Klassik-, Noise- und Art Rock-Anleihen. Statt im flow zu reimen stolpern und stürzen die MC’s über die Beats. Sole reimt z.B. fast nie, weil er statische Reimschemata als Einengung seiner Ausdrucksmöglichkeiten empfindet. Stattdessen setzt er seinen eigenen Rhythmus spannungsvoll gegen die Beats, was im schon häufig als Unvermögen angekreidet wurde (gegen derartige Kritik weiß er sich allerdings mit seiner humoresken Polemik zur Wehr zu setzen: "This isn’t spoken word, it’s the reinvention of Sugar Hill" oder "May be this is instrumental music and I don’t know when to shut up" lauten seine Konter). Statt selbstbewußtem Posing werden Selbstzweifel geäußert (gepaart mit Nonsense- und Polemik-Befreiungsschlägen). So sind die Alben von Deep Puddle Dynamics, Them (Dose One & Jel) und Sole im Sound sehr verwandt und verbreiten mit ihren dichten Klangschichten eine düstere, hektische Stimmung, die manchmal in Hysterie, manchmal in Melancholie umschlägt. Ist der Emo-Rap ,wie Sole es nennt, Folge traurigen Selbstmitleids, oder existentielle Notwendigkeit? Eher Letzteres, denn die Themen ergeben sich aus dem untypischen geographischen und sozialen Background der Beteiligten. Die kleinen und großen Familiendramen der Anticonler (Drogensucht in der Familie, Tod bzw. Selbstmord der Eltern), das Dissidenzgefühl in der Provinz gefangener Andersdenkender schreiben und sprechen sie sich von der Seele, ohne voher 7 mal verkünden zu müssen, daß das, was nun folgt, auch ‘wirklich-echt-real-authentisch’ ist. Die sehr persönliche und poetische Ausdrucksweise widerspricht der üblichen, selbstgerechten ‘weg-da, Platz-da, jetzt-komm-ich’-Attitüde im Hip Hop. Um so selbstbewußter schießt dazwischen die Polemik gegen bloß Standards erfüllende Kollegen hervor, mit der die kulturindustrielle Verwertungslogik wieder auf die Füsse gestellt wird: "Signed artists, if you are so dope, why haven’t you been dropped yet?"(Sole). Doch Selbstgerecht? Nicht wirklich, denn Sole will schließlich nur seinen Ansatz gegenüber den handelsüblichen verteidigen:" I’m not the white Master P, I just want to own my masters and make sure my friends always have records out!".



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