Jedermann
12.08.2006

Jedermann

Autor/en: Philip Roth

Schwerelos ins Schwerste geführt

von Werner Fuchs

Als ich noch gegen Bezahlung meine Meinung zu einem Buch äussern musste, fühlte ich mich wie eine der Figuren aus Philip Roths neustem Buch. Auch ich dachte als junger Schreiberling, mit meiner Vergänglichkeit befasse ich mich dann, wenn ich 75 Jahre alt bin. Kein Wunder hatte ich keinen Zugang zu Werken wie diesem, das schon lange auf meinem Büchertisch lag und dauernd anderen Autoren den Vorzug lassen musste. Der richtige Zeitpunkt war einfach noch nicht gekommen. Das änderte sich an Weihnachten, als mein Vater starb. Jetzt konnte ich dem Tod einmal mehr nicht mehr ausweichen. Und da ich aus der Lektüre früherer Roth-Bücher den Schluss zog, er könne mich mit seinen Geschichten, seiner Sprache und seinen Bildern erreichen, war es plötzlich klar, was ich als nächstes lesen würde. Und ebenso klar war mir nach der Lektüre, wem der Zugang zu diesem Buch verwehrt sein muss.

"Verurteile niemanden, bevor du nicht in seiner Lage warst", heisst es im Talmud. "Fälle kein Urteil über dieses Buch, wenn du dich nicht mit deiner eigenen Vergänglichkeit auseinandersetzten willst", kam mir in den Sinn. Philip Roth hat ein Buch über das Sterben geschrieben, das so leicht, direkt und tief ist, wie ich wenige kenne. Nur Autoren seiner Klasse können es wagen, das Jedermann-Motiv neu zu gestalten. So wie es seinem Namensvetter Joseph Roth gelungen ist, den Hiob in unsere Zeit zu übertragen, schafft es Philip Roth mit der Figur des Jedermann. Keine Spur von billiger Anlehnung an eine bekannte Geschichte, sondern eine Variationen, die das Wesentliche des Menschseins weiterträgt. Jedermann als Firmennahme eines kleinen Schmuckgeschäfts, das der Inhaber mitten in der Depression von 1933 gründete, um seinen Söhnen feste Werte zu hinterlassen. Darauf muss man erst mal kommen. Nichts in diesem Buch erinnert an medienwirksame Gags oder werberische "Jetzt-hört-mal-zu-Ideen". Jedes Bild, jeder Satz, jede Verknüpfung ist für mich zwingend und locker zugleich. Das ist Literatur, wie ich sie im deutschen Sprachraum nur selten antreffe. Man muss sich nur auf sie einlassen. Arme Rezensenten, die am Morgen den Job fassen, in drei Tagen ein Besprechung dieses Buches in maximal 1'500 Zeichen zu verfassen. Persönlicher Zugang hin oder her. Ein Buch über das Sterben und die Vergänglichkeit des Menschen soll man lesen, wenn der richtige Zeitpunkt da ist. Ist dies der Fall, dann gibt es nur wenige Autoren, die so viel zu sagen haben wie Philip Roth. Und noch weniger, die ihre Gedanken so schwerelos formulieren und auf die Reise schicken können.

Mein Fazit: Was andere auf doppelt so vielen Seiten nicht schaffen, verdichtet Philip Roth in Worte und Bilder, die mir einmal mehr zeigen, wie rar literarische Perlen sind. Während durchschnittliche Schriftsteller ihre persönlichen Betroffenheiten bis zur Übelkeit auswalzen, beschränkt sich Philip Roth einfach auf das Wesentliche einer guten Geschichte. Ich finde das grossartig, was immer andere dagegen einzuwenden haben. Man muss Roths Worte und Sätze lesen, nicht nacherzählen.