Ahabs Steuer
24.03.2006

Ahabs Steuer - Navigationen zwischen Kunst und Naturwissenschaft

Autor/en: Nils Röller

von Eckhard Fürlus

Der Merve Verlag Berlin, der im vergangenen Jahr sein 35jähriges Bestehen feiern konnte, hat jüngst das Buch „Ahabs Steuer. Navigationen zwischen Kunst und Naturwissenschaft“ von Nils Röller herausgegeben. Dieses Buch ist im Rahmen eines Stipendiums am Institut für Grundlagenforschung des Zentrums für Kunst und Medientechnologie ZKM Karlsruhe entstanden. In diesem Buch bringt Nils Röller, ausgehend von dem Roman „Moby Dick“ von Hermann Melville, den Schriftsteller und Dichter Charles Olson, den Mathematiker Hermann Weyl und dessen Auffassung von Raum und Zeit als Medien, die Schriftsteller H. C. Artmann und Oswald Wiener und den Künstler Dieter Roth sowie die Theorie der modernen Lyrik von Walter Höllerer zusammen und überrascht den Leser mit äußerst aufschlußreichen Erkenntnissen.

Navigare necesse est. Das wußte man im alten Rom, und das weiß man spätestens dann, wenn man das jüngste Buch aus der Feder des Philosophen, Schriftstellers und Medienwissenschaftlers Nils Röller gelesen hat. Dabei meint navigare, das schöne alte Wort für Seefahrt, in diesem Fall nicht die Kunst des in See Stechens, des Schiffens und des Segelns, sondern die Verortung zwischen den beiden Disziplinen Kunst und Wissenschaft. Die Romanvorlage „Moby Dick“ ist Ausgangspunkt für Reflexionen Röllers z. B. über die täuschende Wirkung des Brechungsindizes unterschiedlicher Medien. Seit dem 17. Jahrhundert versteht man unter dem Wort „Medium“ das, „was zwischen Sinnesorgan und wahrgenommenem Objekt liegt. Wasser und Luft als Medien mit unterschiedlichen Brechungsindizes anzusehen, das war Melville bekannt“, lesen wir auf S. 16 f., und anhand der von Nils Röller geschilderten Resümees einiger Kapitel aus Melvilles Roman erfährt der Leser hier einiges über das Verhältnis von Medialität und Wahrnehmung.

Über Charles Olson, den Dichter, heißt es gleich eingangs, daß er in Mexiko lebt und daß ihn die finanzielle Not drückt. Zwar sei er reicher an Möglichkeiten als die Menschen seiner Umgebung, doch er, der sich räumlich auf der Stelle tritt, durchstreife zeitlich Jahrtausende. Von der Zusammenarbeit Olsens mit dem Regisseur John Huston ist die Rede und von dem fiktiven Erzähler Ismael aus dem Roman Melvilles und dem Protagonisten der Geschichte, Kapitän Ahab. Nach seiner Rückkehr aus Mexiko wird Olsen Direktor des Black Mountain Colleges in North Carolina.

„Melville“, so Röller, „konstruiert zunächst den Erzähler Ismael, er baut ihn als eine spezifisch mediale Leerform auf, um dann die Relation zuwischen den drei extremen Phänomenen Leviathan, Ahab und Walfangschiff entwickeln zu können. Mit Ismael schafft er eine Figur, deren Zwiespalt zwischen dilettantischer Empirie und angelesenem Wissen eine Haltung präfiguriert, die Olson wiederholt, wenn er begeistert Verbindungen zwischen Melville, der modernen Naturwissenschaft und dem Kraftfeld der alten Mayas wahrnimmt.“ (S. 19).

Nimm dir einen Regelkreis
Und tu’ dich mitten rein,
Schnell erhältst du den Beweis:
Besser kann die Welt nicht sein.
Freiwillige Selbstkontrolle, Lob der Kybernetik

Eingeteilt in fünf Kapitel mit je zwei Unterkapiteln spannt Nils Röller den Bogen auf 142 Seiten von der untergegangenen Hochkultur der Maya über Albert Einsein, Oswald Wiener und C. G. Jung zur modernen Naturwissenschaft und Technik. Schon die Kapitelüberschriften dieses Buches sind Programm resp. Programmpunkte für die Fahrt und verraten, wohin die Reise geht. Kapitel IV trägt die Überschrift „Fahrt nach Nantucket“ und bezieht sich auf einen Text von H. C. Artmann; nach der Schilderung einer spannenden Situation an Bord von Ahabs Schiff – Kapitän Ahab bietet demjenigen, der als erster den Wal Moby Dick erspäht, eine Golddublone, die dieser gleichsam als materialisierten gemeinsamen Willen an den Hauptmast nagelt – stellt Röller die Wiener Gruppe und ihr sprachkritisches Programm vor. Ein Unterkapitel trägt die Überschrift: „Verbesserung von Mitteleuropa“ und ist ein ganz bewußter Rückgriff auf das Buch „Die Verbesserung von Mitteleuropa“ von Oswald Wiener. (S. 95).

Daß Oswald Wiener sich zu Kapitän Ahab verhält wie Dieter Roth zu Ismael, macht Nils Röller an einer Textpassage deutlich: „Oswald Wiener wirkt wie eine Verkörperung der künstlichen Figur Ahabs unter den Bedingungen der frühen sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Wie Ahab drängt der gelehrte Dichter darauf, Grenzen zu überschreiten und die 'weiße Wand', das Gefängnis des Bewusstseins zu durchstoßen. Er durchstürmt die 'Zeichenmeere' der neu entstehenden Computer- und Kognitionswissenschaften, um herauszufinden, wer und was seinem Denken Grenzen setzt und seine Beschränktheit wahrnehmbar werden lässt. Der mit ihm befreundete Künstler Dieter Roth unterbietet mit seinem naiven 'Jugenstil des Erkennens’ und den 'Versuche(n) in Scheiße' die gedanklichen Elaborationen Wieners und lässt sie ins Leere laufen. Um das Schaffen des Künstlers Dieter Roth zu charakterisieren, der alle zu seinen Lebzeiten verfügbaren Ausdruckstechniken einsetzt und implodieren lässt, bietet sich die Figur Ismaels an, der im Unterschied zu Ahab Wiener im Binnenbereich, im Gefängnis des Bewusstseins rumort, und dafür Sorge trägt, dass der 'Unsinn nicht verloren geht', der den Schimmel kultiviert, aber ismaelitisch nicht versucht, die Wände des Gefängnisses zu durchstoßen. Im Unterschied zu Olson loten Roth und Wiener die epistemischen Chancen der technisch bedingten Ausdrucksformen und Maschinen aus.“ (S. 22).

Nils Röller wurde 1966 in Wilhelmshaven geboren und hat in Berlin Philosophie, Italienisch und Medienwissenschaften studiert. Zusammen mit Siegfried Zielinski leitete er von 1996 bis 1999 das Festival „Digitale“. Zu seinen Veröffentlichungen gehören u. a. „Absolute Flusser“ (zusammen mit Silvia Wagnermaier), das Buch „Migranten - Jabès, Nono, Cacciari“, erschienen 1995 ebenfalls im Merve Verlag Berlin, sowie „Medientheorie im epistemischen Übergang“. Seit 2003 ist Röller Dozent für Medien- und Kulturtheorie an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich.

Aufgabe der Dichtung, schreibt Nils Röller, ist es nicht, „zu kommunizieren und Welt darzustellen, sondern eine Situation zu schaffen, in der erfahrbar wird, wie Wirklichkeit und Welt durch die Sprache geformt werden.“ Wie Oswald Wiener, so versteht auch Nils Röller Schreiben als einen Versuch, die Grenzen des eigenen Vorstellungsvermögens zu erforschen und sich dabei an Fragen naturwissenschaftlicher Erkenntnistheorie zu orientieren.