Marlene Streeruwitz
15.01.2006

Jessica, 30

Autor/en: Marlene Streeruwitz

"...nach Mitternacht ist Fleisch einfach ekelhaft ..."

von Eckhard Fürlus

Was ist ein Roman? Jessica, 30. von Marlene Streeruwitz ist - laut Buchtitel - ein Roman. Erläuternd ist dem ersten Kapitel vorangestellt: "Dieser Text ist ein Werk literarischer Fiktion. Figuren und Handlungen sind frei erfunden." Nicht erfunden sind die im Roman enthaltenen Versatzstücke aus der Wirklichkeit: Fernsehserien, Eiskremsorten, Rockgruppen.

Gegliedert ist der Roman in drei Teile, ohne daß es der Kapitelüberschriften bedurft hätte. Das erste Kapitel ist ein einziger Satz, ein Bandwurm, eine Aneinanderreihung von lediglich durch Kommata getrennten Sätzen. Im zweiten Kapitel überwiegen die dialogischen Abschnitte. Das dritte Kapitel ist wie Kapitel eins wiederum ein einziger Satz, ein Block von Gedankengängen.

Was ich zunächst gut gefunden hatte: da schreibt jemand aus der Sicht einer Frau von dreißig Jahren, Jessica, 30. Und die Gedanken, die hier ohne Punkt mit vielen Kommata ausgebreitet werden, könnten durchaus auch die Gedanken der Schriftstellerin M. Streeruwitz sein. Ein Platzregen aus Gedanken beim Joggen. Gedanken kümmern sich nicht um Satzzeichen.

Marlene Streeruwitz schreibt englische Wörter klein. Beispiel: bodylotion (S. 77), bodybuilding (S. 83), corporal punishment (S. 185). Das finde ich sympathisch. Weniger sympathisch finde ich, daß ihre Protagonistin Jessica nicht zu unterscheiden vermag. Männer sind alle gleich. "Amseln, und es interessiert auch wieder nur Frauen, kein Mann hat überhaupt verstanden, was ich meine, hören die das nicht, ist das wirklich so einfach, man hört etwas nicht und deswegen kann einem nichts fehlen und dann ist man unverwundbar". (S. 23)

Manche Gedanken sind ganz alltägliche Gedanken. Die hat sich so oder in ähnlicher Weise jeder schon mal gemacht: "so lange ich noch nicht Nacktfotos bei irgendeinem Fotografen mache, ist der Narzissmus noch nicht übertrieben, und die Fotos sind ja richtig spießig, aber verstehen kann ich das schon, dass man sich erinnern will, was für eine Figur man gehabt hat, das möchte man doch nicht vergessen, und wahrscheinlich ist das ein Ansporn, sich die Figur zu erhalten, das kann ich mir schon vorstellen, dass das hilft, stellen die das Foto dann auf oder liegt das in der Lade, oder sind das die Leute, die auch Videos von sich machen, dabei, und das wäre ja auch so ein Dokument, so habe ich beim Ficken 2001 ausgesehen, und man könnte sich an die Liebhaber besser erinnern, wenn man die Namen auf die Videobänder schreibt, und wahrscheinlich machen das ohnehin alle und nur ich bin wieder nicht, ich habe wieder nicht begriffen, was läuft, ..." (S. 78 f.) Marlene Streeruwitz schreibt über Denver Clan, Dynasty, Houellebecq, und erzwungenen Orgasmus (S. 22), 14 Arten von Orgasmen, (S. 90); so was wie: "und es war kein wirklich schreckliches Erlebnis, es war ein schief gegangener Fick, wie das halt vorkommt," (S. 183).

Aufgeteilt ist der Roman in drei Kapitel: Ohne Punkte das erste Kapitel, d. h. das erste Kapitel zeiht sich als ein einziger Satz von Seite bis S. 91. Es folgt ein Kapitel, in dem die Dialoge überwiegen. Geschildert wird eine Vergewaltigung von Jessica, 30, durch einen Politiker. Von Seite 176 bis zum Schluß folgt das ditte Kapitel, wiederum in einem Satz, ohne Punkte. Ohne Absätze. A-B-A. Formal ist das die Dreiteilung des spätmittelalterlichen Flügelaltars, des Triptychons: Seitenflügel, Mittelbild, Seitenflügel.

Frischer Wind von links treibt den Leser nach rechts. Marlene Streeruwitz drängt ihre - sicher nicht nur männlichen - Leser nolens volens in eine konservative Ecke. Was am meisten nervt: Hier, im vorliegenden Roman Jessica, 30., soll etwas bestimmtes gedacht werden, in eine bestimmte Richtung gedacht werden. Vielleicht nach vorne gedacht werden. Nichts ist fürchterlicher, als etwas denken zu sollen. Geschlechterrollen. Als Attitüde ist das ist 70er Jahre pur. Von ihrer unangenehmsten Seite. Schokoladesauce. Eiskasten. Arbeitslosenzahlen. Chemotherapie. (S. 23 f.) Biedermeierpornos, Fickketten, Swingerclubs. Seitenhiebe gegen Arthur Schnitzler und gegen Stanley Kubricks Film Eyes wide shut. Orgasmus und Schlagobersberge. Orgasmuskater (S. 76).

Marlene Streeruwitz' Roman Jessica, 30. polarisiert. Das ist das Beste, was man über ihn sagen kann. Er ist nicht inspirierend, er ist nicht erfrischend, er ist nicht außerordentlich. Er ist aufregend.