15.05.2006

Johannes Gachnang

von Nils Röller

Der Verleger als Kartensammler im Kunstmuseum Aarau

Der Künstler ist die Aufgabe der Menschheit
Meret Oppenheim *

Malstrom ist den Herausforderungen gewidmet, die im Schiffbruch liegen, den Möglichkeiten, im Wirbel der Strömungen und Wellen zu überleben. Schiffbrüchige sind wir alle, da die Gewohnheiten, die uns sicher durch die Welt geführt haben, zerschellen in den Querströmungen von Globalisierung, Technik, Epidemien, Armut und Naturkatastrophen.

Malstrom fragt, was wir in der Hand und im Kopf halten können, was uns weiterhilft, wenn die gewohnten Strategien nicht mehr greifen. McLuhan rät unsere gewohnte Raum- und Zeitwahrnehmung herauszuwerfen und uns dynamisch zu orientieren. Kinder und Indianer können das. Kinder fragen zum Beispiel, wenn sie zum ersten Mal mit dem Flugzeug vom Boden abheben und bemerken, dass die Welt unter ihnen kleiner wird: Wann werden wir selbst kleiner? Indianer, die den Weg verlieren, sagen nicht: Wir sind verloren, sondern unser Wigwam ist verloren. Indianer und Kinder haben ihre Raumwahrnehmung nicht an ein fixe Vorstellung geknüpft, sondern beobachten, dass sie sich selbst mit dem Raum, indem sie sich befinden, verändern können. McLuhan behauptet, dass Künstler sensibel für neue Raum- und Zeitwahrnehmungen sind.

Künstlerbücher versteht Malstrom als Breviere der flexiblen Orientierung. Solche Bücher hat der Berner Verlag Gachnang und Springer publiziert. Vorgestellt wird die Produktion des Verlags derzeit im Kunstmuseum Aarau. Malstrom blätterte deshalb in dem Buch "Bravura" von Per Kirkeby. Das Buch, so hiess es bei Eröffnung der Ausstellung, war in den Achtziger Jahren für die Künstler in der Schweiz wichtig. Warum? Weil Dänemark eine Schweiz im Norden Deutschlands ist? Ein Land und eine Nation, die sich mit dem Teutonischen an seiner Grenze auseinandersetzen muss? Ein Grund ist die materielle Malweise des Teutonen Baselitz, die Dänen und Schweizer provozierte. Die Künstler Gachnangs sind Materialisten, solche, die Materie vorfinden, Farben und Formen, aber zögern sie zu verwenden, obwohl sie den Drang verspüren, zu malen. Aber wozu noch malen, nachdem man gesehen hat, dass man nur ein Urinoir oder einen Flaschentrockner ausstellen muss, um als Künstler zu gelten?

Es ist ein tollpatschiger, schwerfälliger Umgang mit Farbe und Form, der die Künstler Gachnang auszeichnet, Baselitz besonders, der Sachse ohne Heimat, der knorrig deutsch Granatäpfel zu sehen gibt, der alles auf dem Kopf stehend malt oder Broodthaers, der Worte, der Industriegesellschaft aufliest und fragt, was ein Adler sein kann, der auf einem Flaschenetikett fixiert ist oder Kirkeby, der den schwerfälligen Teutonen Kristalle entgegenhält, durch die Farbflecken zu weiten polaren Landschaften werden.

Ein Schlüsselbild dieser Generation hängt in Basel. Das Bild "Day Before One" (1951) von Barnett Newman. Gachnang schreibt darüber: "1959 [Ankauf des Werkes durch Arnold Rüdlinger (1919-1967), der sich für das Werk in Newmans Atelier in New York entschied und es nach Basel schicken liess], daß war meine Generation gerade mal zwanzig Jahre alt geworden. Wir liebten die Kunst, hatten aber keine grosse Ahnung von dem, was wir sahen. Die Aufgabe blieb uns nicht erspart, das sehen zu lernen, was an den Wänden hing. Die Kataloge jener Jahre waren schmal, die Texte `unbedenklich`kurz und Farbabbildungen die Ausnahme. Dass ein uns stark bewegendes Bild im Museum hing, war stets Anlass über die Sensation des ersten Tages hinweg das Haus mit diesem Werk des öfteren zu besuchen und sich ihm durch die Geschichte der Malerei spazierend, langsam zu nähern. Bei "Day Before One" von Newman im Kunstmuseum Basel wollte diese Vorgehensweise nicht funktionieren. Die Wege wurden immer kürzer, und einmal mehr stand man dann wieder unvermittelt vor dem tiefen Blau des schmalen hohen Werkes (Öl auf Leinwand, 335x127,5 cm) und fragte sich erneut: Wann wird die Malerei zum Bild, wann das Bild zur Malerei? Darüber konnte man damals auch bei einem Werk eines amerikanischen Künstlers sprechen. Die doppelte Frage war die Brücke zwischen den beiden Kulturen, zwischen dem Betrachter und dem Schöpfer des Werkes. Aber haben wir damit das Drama dieser Bilder auch verstanden?" (Gachnang, Johannes: "Day Before One - Ein Bild und ein Buch". In: Barnett Newman - Schriften und Interviews 1925-1970. Bern 1996 [New York 1990]: Gachnang und Springer S. 408f.)

Die Künstler Gachnangs sind selbst bewegte Beweger. Im Unterschied zu Duchamp, Dali und die Surrealisten, die von Amerika angelockt und von Europa der Nazi abgestossen worden sind, bewegen sich die Künstler aus eigenem Anlass. Sie sind auf der Suche nach entlegenen Inseln, scannen das Mittelmeer nach kleinen Buchten ab, erkunden Grönland oder kehren Nordamerika den Rücken zu, wie Coppley zum Beispiel. Diesen Bewegungen verleiht der Verlag Gachnang und Springer Beständigkeit, indem die Aufzeichnungen der Künstler wie feine Kartenwerke herausgegeben werden. Der Verleger gleicht damit einem europäischen Souverän am Beginn der Neuzeit, als die geographischen Karten High-Tech und Objekte der Spionage waren. Sie sicherten den Zugang zu Rohstoffen. Gachnang sammelt Karten innerer Landschaften. Sie dienen dem modernen Subjekt, dem Fürsten moderner Regierungsweisen als Brevier.

Gachnang hat von einem alten Traum Abstand genommen, vom Traum der absoluten Bestimmung, vom Traum, Kunst kalkulieren zu können. Berechnend mit Kunst umzugehen, das war die historische Leistung Duchamps. Er ist der grosse Schachspieler im Reich der Kunst gewesen, der jeden Effekt seiner Werke wie den Zug einer Schachfigur berechnete, um seine Werke, seine Damen für sich zu behalten. Diese Passion für das Schachspiel beschreibt William N. Copley in einem Brevier, das im Verlag Gachnang und Springer veröffentlicht worden ist: Portrait des Künstlers als junger Händler: "Wie schon gesagt, war Schach sehr wichtig für Man Ray - eine Leidenschaft, die er ohne Zweifel von Marcel Duchamp übernommen hatte - doch war er niemals ein solcher Spieler wie Marcel. Dies hatte mit ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten zu tun. Duchamp war die Geduld selbst. Man Ray wollte immer alles abschliessen. Schach war das Thema auf vielen seiner Bilder und wir stellten auch eine Reihe der von ihm entworfenen Spiele aus. Ich habe nie begriffen, warum die Surrealisten eine derartige Fixierung auf das Schachspiel entwickelt hatten. Ich hätte es noch verstehen können, wenn sie nicht den entscheidenden Schritt getan hätten, das Spiel auch tatsächlich zu spielen. Ich finde es absolut masochistisch. Natürlich machte ich diese Prozesse auch durch, um schliesslich zu dem Schluss zu kommen, dass es eine anstrengende und zeitraubende Tätigkeit ist, die das Ego unterminiert. Ich leide wochenlang nach einer Niederlage, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt, bar allen Selbstbewusstseins. Ich denke, dass die Unendlichkeit der Möglichkeiten, die sich während eines Spiels ergeben, die Spieler zum Weitermachen drängt. Nur Duchamp entwickelte sich zu einem sozusagen exzellenten Spieler und ich musste einmal zusehen, wie er vernichtet wurde, weil eine wohlmeinende Gastgeberin ihn und einen Schachhistoriker dazu zwang, gegeneinander zu spielen. Der Historiker bot seine Dame an, sobald er eine Möglichkeit gefunden hatte, sie loszuwerden. Duchamp, und sogar ich selbst wussten, dass soeben das Dach eingestürzt war". Copley, William N.: Portrait des Künstlers als junger Händler. [Houston 1979/Paris 1977] Bern 1990/98: Gachnang und Springer, S. 61

Duchamp Exzellenz bestand in seiner Geduld. Wie eine Spinne wartete er geduldig darauf, dass sich sein Gegner im Netz seiner Züge verfängt. Rudolf Schmitz sagt über Gachnang, er habe in seinen Veröffentlichungen ein Netz von Beziehungen gespannt. Für die Spinne ist das Netz ein Mittel, um andere einzufangen. Das können die Bücher für Gachnang nicht gewesen sein. Sie sind vielmehr Mitteilungen von Erkundungen, Kartographien von Materieströmungen. Die künstlerischen Empfindungskörper teilen mit, halten fest, was ihnen widerfahren ist, als sie sich von den fixen Ideen Duchamps lösten und in den Strom der Kräfte von Farbe und Form in der Malerei eintauchten.

Zu nutzen versteht diese Karten, wer einsieht, dass Regentschaft seiner selbst, die Ideen von Wohlstand, Glück und Wellness, zu einer Versklavung führen. Der Fürst-Sklave entrinnt der Macht der Zwecke, indem er sich an der Idee des Offenen orientiert, indem er sich als Schiffbrüchigen definiert, als Flüchtling, als jemand der mit uneigentlichen Mitteln arbeitet. Der Prinz von Machiavelli und die Ethik Spinozas sind für den Philosophen Giorgio Agamben solche uneigentlichen Mittel des Widerstands der Flüchtlinge und Schiffbrüchigen der Moderne. Das gilt auch für das Kartenwerk, das der Verlag Gachnang und Springer herausgegeben hat.

*Ausstellungsempfehlung: MERET OPPENHEIM - Retrospektive: mit ganz enorm wenig viel Freitag, 2. Juni 2006 - Sonntag, 8. Oktober 2006. (www.kunstmuseumbern.ch)