15.06.2009

Notizen eines Kerzenhändlers - Folge 44

von Nils Röller

I Kerz will zuviel und nichts, er möchte eine Poetik der Mikrokredite entwickeln, lässt sich jedoch von Notizen, die er geschrieben hat, ablenken.

Wenn wir unser Geld für Mikrokredite zur Verfügung stellen, helfen wir anderen, etwas aufzubauen. Zugleich bauen wir damit das Finanzsystem um, wir stellen etwas umsonst zur Verfügung, das uns sonst einen Ertrag versprochen hätte (Ein Ertrag, den uns die Banken versprechen). Es wird allerdings nicht wie das Schiff des Theseus* nach dem Umbau seine übliche Form bewahren, sondern bereits eine Form haben, die es erlaubt, auf hoher See zu überleben und zugleich an dem Gefährt zu bauen, auf dem man sich befindet, es fahrend den Bedingungen der Krise laufend anzupassen.

II Das Kunstsystem stellt solche Schiffe aus. Es ist ein Schiffsfriedhof, der auf dem offenen Meer des entzügelten Kapitalismus treibt. Ein künstliches Atoll (Waterworld), das zu Messezeiten aufgemöbelt wird. Interessant sind die Eingänge zum Atoll. Man sieht sie nicht, doch müssen sie vorhanden sein, damit die Zirkulation von Gütern, Materialien und deren Entsorgung funktionieren kann.

III Frank O`Hara hat sich dichtend mit der New Yorker Kunst beschäftigt und damit die Verachtung von Kunstkritikern wie Greenberg auf sich gezogen, die formal, methodisch Kunst analysierten.

IV Richard Jackson zeigt in einer Galerie Farben, die mit Waschmaschinen verschleudert worden sind. Das Fernsehen zeigt Blut, das bei Attentaten aufspritzte.

V Kerz überlegt sich, wie er überleben wird. Angenommen eine Bombe zerstört sein digitales Equipment und auch seine schriftlichen Aufzeichnungen werden vernichtet. Dann hat er nichts zur Hand, er muss mit dem auskommen, was er im Kopf hat. Darauf sollte er sich auch schon jetzt verlassen, denn der Freund des Wissens soll nur das besitzen, was er bei sich tragen kann, das soll ein Freund des Wissens gesagt haben.

VI Finnegans Wake - O Cadoiro

Wie man über einen Autor schreiben kann, das fragt Kerz nicht lange, denn ihn plagt die Frage, wie er sich angemessenen gegenüber der Welt verhält, von der er Bedrohliches hört. Er findet kurzzeitig den Mut zu denken, dass ihn weder Seuchen wie die Vogelgrippe noch der Klimawandel angehen, weil er selbst noch nichts dergleichen wahrgenommen hat, sondern nur von anderen gelesen und gehört hat, dass es dergleichen gibt, aber dieser Mut schwindet, denn eine Realität ist, dass andere mit grosser Vehemenz darüber debattieren und dieser Realität kann Kerz sich nicht verschliessen. Er findet kurz eine Ermunterung bei Jean Paul, der in einem Absatz schreibt: „Das beste in diesem Jahrhundert sei es, daheim zu bleiben“, aber Jean Paul lebte in einem anderen Jahrhundert als Kerz und ausserdem hat Jean Paul daheim geschrieben, manchmal der Ohnmacht nahe ab morgens früh um drei. Kerz hingegen blättert in den Büchern anderer, wenn er zu Hause sitzt oder schaut sich DVD`s an, zum Beispiel: Technocalyps – A Film by Frank Theys.

Zeich hingegen denkt über die Schweiz nach und fragt, ob ihr Problem die Suche nach Gelassenheit ist. Er ist dabei nicht sehr gelassen, sondern geht im Niederdorf auf und ab, betrachtet Schaufenster, notiert Schriftzüge auf Wirtshaustafeln und Leuchtreklamen in der Hoffnung, sie in seinem Roman, den er nebem seinem Business schreiben möchte, zu verwenden. Heute steht das Wort „Schweizerhof“ in seinem Notizbuch. Es hat den Beigeschmack von Idylle und Profit. Zeich sagt, dass Kerz endlich Schluss mach soll mit dem unentschiedenen Herumlesen, er soll endlich mal etwas verdichten und empfiehlt ihm, durch etwas durchzugehen, zum Beispiel durch Finnegans Wake oder die Gedichte in O Cadoiro von Erin Moure (Schreibheft 72). Da sei jeder Satz ein Kristall. Wer sich diese Kristalle ansehe, der werde reich. Denn die Kristalle werfen einen Schein auf das eigene Leben, das sich ändert: Jeder Satz, jede dieser Lektüren bilden Kristalle aus, die das Leben anders als zuvor erscheinen lassen. Damit werde das Leben reicher. Das seien künstlerische Rekationen auf Descartes` Überlegung, dass die Naturwissenschaften Strahlen gleichen. Die Naturwissenschaften sind die Strahlen der Erkenntnis. Sie gleichen der Sonne, die Strahlen auf die Dinge werfe. So wie alle Strahlen von der Sonne ausgehen, so alle Wissenschaft von der Erkenntnis.

Nun sei jeder Satz aus Finnegans Wake, jedes Gedicht von Erin Moure ein Schein, der einem Menschen entspringe. Zeich selbst hat keine Angst, dass diese Strahlen ihn verbrennen und so sein eigenes Licht erlöschen. Kerz fürchtet das schon, er denkt an die Black Smoker, die fern vom Sonnenlicht in 2500 Meter Meerestiefe ein Leben ermöglichen, das ohne Sauerstoff und Sonne auskommt. Was hätte Descartes dazugesagt, dass Zonen bestehen, die das Licht der Sonne nicht benötigen?

VII Senior Setzmann in Auenthal Kerz wird er von manchen Menschen erwartet, die sich freuen, von ihm etwas zu erfahren, so wie Kerz sich darüber freut, dass zwischen den Zahlen in seinem Notizbuch „Senior Setzmann in Auenthal“ steht und er für einen Augenblick nachdenken muss, wie diese Worte dahin geraten sind und ihm dann einfällt, dass Senior Setzmann in Auenthal Teil eines Kosmos ist, der in Erzählungen entwickelt wird, in dem zahlreiche Figuren Orte durchstreifen und jede auf ihre Weise einzigartig ist.

VIII Kerz beschliesst ein Fahrzeug zu bauen, ein Autoschiff, keinen Strassenkreuzer, sondern etwas, das sein Denken, Fühlen und Handeln ändert, wenn er sich hineinsetzt. Sitzt er allein im Fahrzeug oder mit mehreren? Durch welche Umgebungen bewegt es sich fort?

„Kerz! Könntest Du mal eben grüssen? Ach nein, Du bist ja beschäftigt, die Stangen und Kugellager für Dein Getriebe auszusuchen, nimmst da Zahlen und Buchstaben. Oh, das ist klug, herzlichen Glückwunsch dazu! Warum aber konstruierst Du mechanisch, das ist meine Frage, vertraust der Organisation der Kräfte des Industriezeitalters? Könntest doch auch biologisch, chemisch denken oder auf die Kräfte der Wellen und Winde setzen?“
Kerz denkt, dass seine Karre durch ein neues Benzin in Gang kommen könnte, die FWake-Mischung und Coalect-Spannung aus O Cadoiro.

IX Im Atatürk-Stadium von Lissabon trafen Afrikaner, Spanier, Dänen, Italiener, Engländer zusammen. Seedorf, Garcia, Kakka: Namen, verbunden durch Spielzüge, Tore fielen. Im Hinterkopf hat Kerz Argumentationen Peter Fends, der ein Ineinander der Nationen fordert, um die Klimakatastrophe aufzuhalten. Können die Nationen Akteure auf das Spielfeld der Erneuerung schicken? Eine Champions-League im Wettbewerb um Fortschritt für eine humane Welt?

X Was macht man denn heute so? Man enzyklopädiert.

XI Kerz denkt über Zahlen nach und findet für einen Augenblick Zufriedenheit. Er würde jetzt gerne auf einer Bank sitzen, den Rücken an eine sonnenerwärmte Hauswand lehnen und den Morgen geniessen. Sammeln, haben, vollständig etwas besitzen wollen und solange sammeln, nicht eher denken, sondern erst sammeln, dann denken und schreiben, wenn alles Notwendige gesammelt ist, denkt Kerz und hält sich so davon ab, selbst an den Bau von irgendetwas zu gehen. Kerz ist kein Flüchtling, der Dinge aufliest, die er findet und zu uneigentlichen Waffen zusammensetzt, nein: Kerz ist gereift und gesättigt und beginnt erst dann, wenn alles bereit ist, zu denken, zu schreiben, zu handeln. Dann schrecken ihn Gedanken an Leninmengen und Rothwurzeln auf.


* Ship of Theseus: According to Greek legend as reported by Plutarch, the ship wherein Theseus and the youth of Athens returned [from Crete] had thirty oars, and was preserved by the Athenians down even to the time of Demetrius Phalereus, for they took away the old planks as they decayed, putting in new and stronger timber in their place, insomuch that this ship became a standing example among the philosophers, for the logical question of things that grow; one side holding that the ship remained the same, and the other contending that it was not the same. Plutarch thus questions whether the ship would remain the same if it were entirely replaced, piece by piece. As a corollary, one can question what happens if the replaced parts were used to build a second ship. Which, if either, is the original Ship of Theseus? See: http://en.wikipedia.org/wiki/Ship_of_Theseus; See also: Scott D. Wright: Ship of Theseus. A novel.

XII Zeich bemerkt:

"Hier und jetzt ist der Moment, Ihnen das wahre, das echte Motiv meines Engagements zu erklären." Aus: Vilém Flusser: Bochumer Vorlesungen. Herausgegeben von Siegfried Zielinski und Silvia Wagnermeier (http://www.romanform.ch/?p=222)

"säen heisst wählen". Aus: Klaus Weber: Katalog zur Ausstellung in der Wiener Secession (http://www.romanform.ch/?p=185)

"Von einem biologischen Erbe, das unberührt von besonderen Entwicklungs- und Zeugungsbedingungen über die Generationen hinweg weitergegeben wird, war bis Ende des 18. Jahrhunderts nicht die Rede." Aus: Hans-Jörg Rheinberger und Stefan Müller Wille : Vererbung (http://www.romanform.ch/?p=188#more-188)

Zu einer neuen Quantenphysik des Bewusstseins – Gespräche an den Grenzen der Erkenntnis: Autoren: Roy Ascott (UK), Reinhold Bertlmann (A), Ulrike Gabriel (D), Ernst von Glasersfeld (USA), Stuart Hameroff (USA), Luis Eduardo Luna (FL/BR), Josef Mitterer (A), Roger Penrose (UK), Otto E.Rössler (D), Peter Weibel (A), Anton Zeilinger (A). René Stettler (CH/Hrsg.)
Dieses Buch (in Deutsch, 172 Seiten, gebunden, Paperback im CD-Format wird von der Edition Neue Galerie Luzern vertrieben).

Yves Netzhammer eröffnete am 24. April eine Ausstellung in Florenz.