08.03.2007

Notizen eines Kerzenhändlers - Folge 41

von Nils Röller

Kerz vergleicht das Padua der Renaissance mit dem MIT von heute und arabische Manuskripte mit kalifornischen Computerprotokollen.

Kerz liest gerade etwas über Nicolaus von Kues, einen gelehrten Bischof von der Mosel aus dem 15. Jahrhundert. Von Kues studierte in Italien, reiste nach Byzanz und überbrachte von dort wertvolle Manuskripte nach Europa. Kerz sieht in ihm einerseits einen frühen Hightec-Begeisterten, der stets dort ist, wo neue Wissensformen entdeckt werden können. Kerz vergleicht das Padua der Renaissance mit dem MIT von heute und arabische Manuskripte mit kalifornischen Computerprotokollen. Aber er fühlt sich zu wenig informiert, um diese Vergleiche zu strapazieren. Ausserdem spürt er in den Nachrichten über Kues eine Grosszügigkeit und Liebe, die er bei heutigen Hightec-Begeisterten vermisst. Die wirken eher wie Versicherungsagenten von Neuigkeiten oder kommen ihm wie aufgemotzte Händler von geistigen Schmalspurreifen vor, aber nicht wie Persönlichkeiten, die Gefühl und rasanten Verstand miteinander zu verbinden suchen. Dann probiert Kerz das Wort „Hafenmeister der Unendlichkeit“ aus. Charakterisiert es von Kues? Aber wie kann er es in eine Notiz, die von anderen gelesen werden mag, einbringen?

Er könnte ihn als jemanden vorstellen, der in einem reinlichen, aber strapazierten Overall in das Geschäft eintritt und den die Atmosphäre von den stillgelegten Anlagen des östlichen Flussufers umgibt. Das setzt voraus, dass Kerz sich darüber gut informiert, um den Leser glaubwürdig erscheinen zu können. Das lenkt jedoch sehr von Kerz` Zeithaushalt ab und ebenso vom Krieg der Sterne, dessen Raumschiffe oft in sein Bewusstsein geraten, wenn er über von Kues nachdenkt. Mit diesen Raumschiffen fallen ihm auch die Slums ein, über die Mike Davis schreibt. Mike Davis kennt Hollywood und die Megacities der neuen Welt. Das führt über den Umweg der Stille zu Verbindungen zwischen Kues, Kerz, Zeich und den beiden Amerikas.

Wenn Kerz über Stille nachdenkt, stellt er sich die Weite des Titicacasees vor, der sich bleiern vor seinem Geschäft auftut. An der Türschwelle schwankt ein geräumiges Strohkanu, das er mit den anderen besteigt und hinaustreibt. Nachdem sie Schilfinseln hinter sich gelassen haben und über der schweren Tiefe des Hochlandsees treiben, verlieren sie die Orientierung. Die Sonne gleisst silbern auf der Wasseroberfläche, der Unterschied zwischen Luft und Wasser scheint aufgelöst. Kerz, Zeich und die anderen im Kanu wissen nicht, ob über oder unter ihnen der Schatten eines gewaltigen Felsen aufragt. Die einen wenden ihren Blick nach oben, die anderen hinab in das Wasser. Für einen Augenblick nehmen sie eine graue-zackige Formation wahr, die sich mit hellen Sonnenfunken besetzt an ihnen vorbei bewegt. Dann gerät das Kanu aus dem Gleichgewicht und sie stürzen in den See, der sie umschlingt und in die Tiefe hinabzieht. Atem haben sie merkwürdig lange und könne sich unter Wasser gut verständigen und bewegen.

Sie folgen einem Lichtschein, der führt sie an einen Krater, an dessen Rand ein weissgolden erleuchtetes Bauwerk zum Verweilen einlädt. Sie werden von einem mönchisch wirkenden Männchen an der Eingangstor erwartet und in einen Empfangssaal geführt. Die Fenster bietet Ausblick auf ein erschreckendes Panaroma schwelender Mülldeponien und Hütten.

Der Leser, der ihm soweit gefolgt ist, wird jetzt von Kerz enttäuscht, denn Kerz überlegt sich, dass den kurzen prägnanten Sätzen von Kues eigentlich ein anderer Anfang angemessen ist, der allerdings erst in der nächsten Notiz festgehalten werden kann.