15.05.2006

Notizen eines Kerzenhändlers - Folge 38

von Nils Röller

Im antiken Christentum überlegte Pegasius, dass der Mensch Gottes Gnade besitze, dies aber vergessen wurde.

Kerz hat sich vorgenommen, über Falten nachzudenken. Dazwischen liest er etwas über vergessene Gegenstände, das ihn vom Nachdenken abhält. Gemeint sind zunächst Dinge, die man verlegt, dann vergisst, wohin man sie gelegt hat, und schliesslich sogar vergisst, was man verlegt hat. Im antiken Christentum überlegte Pegasius, dass der Mensch Gottes Gnade besitze, dies aber vergessen wurde. Hat Gott sie im Menschen vergessen oder war der Mensch unaufmerksam, als die Gnade in ihn hineingelegt wurde? Es kann aber auch sein, dass das Leben den Menschen so verändert hat, dass das Bewusstsein der Gnade langsam geschwunden ist, in den Hintergrund der Aufmerksamkeit geriet und dann vergessen wurde. Kerz möchte denken, dass die Gnade allmählich vom Leben eingefaltet wurde. Er weiss aber nicht, ob das Leben etwas einfalten kann. Dass das Leben Falten hinterlässt, zum Beispiel in den Gesichtern der Herzogin von Alba und vieler anderer Frauen, das glaubt Kerz zu wissen, aber das einen Prozess der Einfaltung zu nennen, zögert er. Er möchte eher denken, dass das Leben ein Prozess der Entfaltung, statt der Einfaltung ist. Allerdings ist der Gedanke an eingefaltete Gnade schön. Das Leben könnte dann darin bestehen, die Gnade zu entfalten. Was aber, wenn man vergessen hat, dass die Gnade gegeben ist? Dann benötigt man Priester und Theologen, die Kerz ungern in seinem Geschäft weiss. Er würde sie allerdings gerne zu seinen Kunden zählen, auch wenn ihm Dichter willkommener sind, einfach deshalb, weil Priester und Theologen verlässlich für den Verbrauch von Kerzen in ihren Messen sorgen. Dichter sind allerdings bessere Experten für res amissae, wie Giorgio Agamben argumentiert (in: Nymphae. Berlin 2005: Merve). Sie lasssen nämlich ihre Dichtung selbst zur res amissa werden, wenn sie so fortschrittlich sind wie der italienische Dichter Caproni, der als junger Mann seine Violine in Livorno zerschmetterte, als er die erste Geige spielen sollte. In seinen Dichtungen zerstört Caproni das besonders italienische Gut der Dichtung, den Rhythmus. Er ist ein Aprosodiker, der penibel darauf achtet, dass seine Gedichte keinen Rhythmus mehr haben und man völlig vergisst, das Dichtung rhytmisches Sprechen bedeutet. Kerz hat zu wenig Rhythmus, um diesen Gedanken in eine Form einzubetten. Er grüsst im Bewusstsein dieser Unvollkommenheit, mögliche Leser, die mit ihm hoffen, dass er sich entfalten möge.