30.09.2005

Notizen eines Kerzenhändlers - Folge 35

von Nils Röller

Während es ihr vielleicht besser geht, erleiden Tausende die von ihr bereits durchlittenen Qualen auf dem Weg der Migration von Afrika nach Europa.

Nur wenige Kunden betreten Kerz`Geschäft. Er könnte die Zeit, die er alleine im Geschäft sitzt, nutzen, um sie mit einer Formel zu vereinheitlichen. Das wäre eine Form der Beschäftigung, sinnvoller wäre vermutlich etwas anderes. Was, das weiss Kerz nicht, und so beschliesst er weiter in Zeitungen, Zetteln, Karten und Büchern zu blättern, bis sich wieder einmal ein Kunde in sein Geschäft verirrt. So liest er die Geschichte einer Migrantin: Von ihrem besten und ihrem einzigen Rock reisst sie nach zwei oder drei Tagen auf dem offenen Meer kleine Fetzen ab, in die sie ihren Kot einwickelt und über Bord wirft. Über Bord lässt sie an einem dünnen Faden auch eine leere Parfümflasche baumeln, die sie bisher auf der Migration vor Dieben, Polizisten und den anderen Migranten verstecken konnte. Den Inhalt des Fläschchens hat sie zuvor ausgeschleckt. Geplant war es nicht, dass sie solange auf dem Meer ohne Wasser sein würden, ohne Nahrung. Sie hofft, dass ein Fisch das Fläschchen aussenbords erspürt und anbeisst. Tage später, nachdem schon einige Leichen der Migranten über Bord gekippt worden waren, wird sie unter dem Haufen der übrigen Leichen hervorgezogen. Das geschieht nach neun Tagen auf See und einem Tag nach der Sicherung des havarierten Schiffs durch die Küstenwachen von Lampedusa. Ihren Namen erinnert Kerz nicht, er ist in einem Artikel der April/Mai-Ausgabe von mare zu finden (Das Dilemma des Commandante von Dimitri Ladischensky (Text) und Francesco Zizola (Fotos)). Sie selbst wird vielleicht noch zu finden sein in dem Asyl, das ein Franziskanermönch in Lampedusa eingerichtet hat. Vielleicht hat die Überlebende auch eine Stelle als Putzfrau in Palermo gefunden? Während es ihr vielleicht besser geht, erleiden Tausende die von ihr bereits durchlittenen Qualen auf dem Weg der Migration von Afrika nach Europa. Kerz hört diese Geschichte von Zeich, der einen Gedanken beisteuert, den er aus Indien, genauer von einem Mitglied der Künstlergruppe SARAI erfahren hat. Im Cafe, das die Künstlergruppe in Delhi betreibt, wird viel Tee getrunken, kaum Kaffee. Allerdings wird Kaffee in Indien immer mehr getrunken, damit wächst die Furcht. Ist eine globale Gesellschaft denkbar, die nicht auf der Furcht basiert? Die Migranten aus Afrika sind ebenfalls furchtsam, aber nicht weil sie Kaffee trinken, sondern weil ihr Leben während der Migration bedroht ist. Sie leben jahrelang mit der Furcht, indem sie auf Verbesserung hoffen. Vielleicht wäre die Hilfe an der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen ein Mittel, die allgemeine Furcht zu reduzieren. Vielleicht gelingt es auch zu lieben. Die Männer der Küstenwache in Lampedusa arbeiten übrigens ohne Handschuhe, wenn sie auf offener See, die ausgemergelten Migranten aus den Booten, in denen sie tagelang ihre Notdurft verrichten mussten, bergen.

Zeich benimmt sich merkwürdig in der letzten Zeit. Er fährt nicht mehr in seinem Sportwagen vor, sondern in einem geleasten Volkswagen aus östlichen Werkstätten. Er hört Kerz mit dem Ausdruck grosser innerlicher Anspannung zu und erwidert dann meistens zischend, dass dies und jenes nicht geht, völlig der Logik widerspricht. Manchmal sagt er, dass etwas interessant ist, was Kerz sagt. Wie kommt es, dass einer wie Zeich sich erlaubt, über einen anderen wie Kerz zu urteilen? Hat Kerz die Erlaubnis gegeben? Hat sich Zeich sie überhaupt genommen? Vielleicht liegt das Problem darin, dass Zeich die Vorstellung, er müsse um Erlaubnis bitten, völlig fremd ist. Wie kommt es aber, dass Kerz diese Idee hat? Sie verfügen, obwohl sie sich nun schon seit mehr als drei Jahren treffen, über einen unterschiedlichen Vorrat an Ideen und Vorstellungen. Kerz denkt nun so, weil er ein Wörterbuch vor sich liegen hat, das erstaunlich muntere und freche Urteile enthält: Bataille, George; Einstein, Carl; Griaule, Marcel; Leiris, Michel u.a.: Kritisches Wörterbuch. Berlin 2005: Merve. George Battaile schreibt in dem Wörterbuch zum Beispiel, dass der Raum ein Gauner ist. Vielleicht würde es Kerz helfen, wenn er die Worte von Zeich blitzschnell frech umwenden könnte, sie einfach anders verwenden würde, so dass er sich von ihnen nicht getroffen fühlt. Wie lernt man das? Wie kommt man darauf, dass man den Raum als Gauner bezeichnet? Das könnte er eigentlich Zeich fragen, aber der ist schon fort. Leider fällt Kerz diese mögliche Wendung des Gesprächs zu spät ein. Er fragt sich dann noch wie George Bataille dazu kommt, von den eindrucksvollsten und verheerendsten Formen des Schwachsinns zu sprechen und so die Erscheinung eines Kamels zu charakterisieren. Bataille schreibt: „Man kann sogar glauben, dass das Kamel etwas ist, das am kritischsten Punkt des ganzen Lebens steht, dort, wo das Unvermögen am schmerzhaftesten ist“. Kerz kennt Kamele als Wüstenschiffe, deren Schwanken den Rhythmus gerühmter Gedichte ermöglicht hat und nicht als Form verheerendsten Schwachsinns. Der Mund des Kamels ist ein Bug. Schön ist er allerdings nur bedingt zu nennen, da er sich häufig kauend nach links und rechts bewegt und wie eine Autofähre erscheint, die auseinander zu brechen droht. Diese Überraschung – so meint Kerz - kann man als verheerend und schwachsinnig erleben. Man meint, ein stolzes Schiff vor sich zu sehen und muss dann schmerzvoll zur Kenntnis nehmen, dass sich die hohe Form von einem Augenblick zum anderen, von einer Kaubewegung nach links oder nach rechts, verzieht und armselig deformiert erscheint und ass nur, weil das Tier kaut. Das ist das Verheerende, dass die Natur jäh zwischen erhabenen und kümmerlichen Erscheinungen schwankt. Verheerend ist es für unsere Form der Wahrnehmung. Kerz ist traurig, Bataille vielleicht nicht, weil er eine weitere glückliche Wendung zum kritischen Wörterbuch beitragen konnte.