27.06.2005

Notizen eines Kerzenhändlers - Folge 34

von Nils Röller

Da liegt Gulliver in herbstlichen Laubfarben auf einem Titelbild, das ihn mit Schnüren vor einem pastellfarbenen Erdgrund gefesselt zeigt. Haufen von Soldaten, klein wie Ameisen, besetzen Positionen auf und nebem seinem Körper. Es braucht nur einen "Blink", um diese Szene wahrzunehmen, allerdings Minuten, sie in Worten zu fassen. Kerz fragt sich, ob Gulliver, der mal zu gross, mal zu klein, mal zu schwer ist für die Verhältnisse in den von ihm besuchten Ländern, ein Modell des Blinks ist.

Blink bedeutet "Denken ohne zu denken", so verrät es der Untertitel des "best selling" Sachbuchs aus den USA.

Blink bedeutet "Denken ohne zu denken", so verrät es der Untertitel des "best selling" Sachbuchs aus den USA. Blink, das bedeutet intuitives Urteilen, setzt Training voraus, den blitzschnellen Einsatz von Formen der Beurteilung. Kerz, der oft von Kunden, die zum ersten Mal sein Geschäft betreten, abfällig und argwöhnisch angesehen wird, überlegt, ob das mit dem Blink zu tun hat. Vermutlich ja, aber kann er den Eindruck, den er bei seinen Kunden weckt, lenken? Er könnte schauspielen, Rollen studieren, so wie es die Top-Manager in der Schweiz tun, die neuerdings in der Fernsehsendung "Traumjob" mit Jürg Marquard als Patron um Führungspositionen kämpfen. Kerz' Geschäft könnte eine Bühne werden, eine Bühne, auf der er sich in verschiedenen Rollen zeigt.

Geschickter stellt es der Chef des Hotel Dolder an. Er baut die noble Herberge so um, dass die illustren Gäste es als Bühne benutzen können. Das wäre auch ein Ansatz für Kerz' Geschäft. Er könnte sich sich als Bühnenhelfer für die Kunden verstehen, die sein Geschäft betreten. Es gehört wohl zum Geschick der Bühnenarbeiter, dass sie von Schauspielern erst einmal gering geschätzt werden. Die Wertschätzung steigt, wenn sich der Bühnenarbeiter bei seinen Kunden als brauchbar für deren Inszenierungen erweist. Wie er das mit dem Kauf von Kerzen verbinden soll, kann Kerz noch nicht sagen. Ihm kommt aber der Gedanke, dass Gulliver ihm helfen könnte. Gullivers Körpermasse ändern sich nicht, auch wenn er sich in wechselnden Umgebungen als zu gross oder zu klein erweist. Gulliver lernt und gewinnt reiche Erfahrungen, indem er den Diskrepanzen zwischen sich und seiner jeweiligen Umgebung nachgeht. So könnte Kerz gedanklichen Reichtum gewinnen, wenn er jeden Kunden als Faktor einer diskrepanten Umwelt begreift; einer Umwelt, deren Wesen er durch ein genaues Beobachten der Unterschiede zwischen dem jeweiligen Kunden und sich wahrnimmt.

Kann Kerz solchen Reichtum nutzen und künftig mit Blinks die Vielfalt der Welt der Kunden erfassen? Das scheint ihm nicht möglich, dazu bräuchte es einen Mega-Gulliver. Man sagt von Einstein, dass er an einer Theorie für einen solchen Mega-Gulliver gearbeitet habe. Eine solche Theorie setzt voraus, dass die Vielfalt der Formen auf einen Nenner gebracht werden kann und damit vereinheitlicht wäre. Das würde den Umgang mit den Kunden vereinfachen.