22.04.2005

Notizen eines Kerzenhändlers - Folge 33

von Nils Röller

Mitteilungen, die Mitgefangene an Amnesty International weitergeleitet haben sollen, nun aber seit längerer Zeit Besorgnis erregend ausbleiben, [...]

Einen Tag würde Kerz gerne mit der Planung des Geschäfts verbringen. Davon hält ihn Verschiedenes ab: Mitteilungen (vermutlich durch die Zellentür geflüstert oder geschrieen) des Islamisten Zammar, dass er schwer gefoltert worden ist – Mitteilungen, die Mitgefangene an Amnesty International weitergeleitet haben sollen, nun aber seit längerer Zeit Besorgnis erregend ausbleiben, so die Süddeutsche Zeitung in der Wochenendausgabe; dann der Schwebezustand eines Menschen über einem Labortisch, dessen Messgeräte nicht angestellt sind (zu sehen auf einer Fotographie von Istvan Balogh in der Buchandlung Kunstgriff (www.kunstgriff.ch)); ausserdem die Schiksale diverser Troubadours, z.B. Perdigos, der vom Fischersohn zum Ritter wurde, des Mönchs Gauberts de Poicebots, der von Sir Savaric de Mauleon Zaumzeug, Pferd und Kleider erhielt, um als Sänger die Höfe der Provence zu besuchen oder Jaufre Rudels, der gute musikalische Weisen und nur dürftige Worte zu ihrer Begleitung gefunden ( nach „trovar“/“trobar“) haben soll. Kerz überlegt, ob Verbindungen zwischen diesen Informationen bestehen. Er könnte sie suchen. Das wäre eine Herausforderung: Unstimmigkeiten zu finden und sie zu einer Notiz wie dieser zusammenzufügen. Das Problem an dieser nun entstehenden Notiz ist, dass sie nichts erhellt. Liest man sie, geschieht nichts, ausser dass vielleicht, die Lebensgeister in Unruhe geraten. Gilt für die Unruhe dasselbe wie für die Liebe? Von der Liebe sang der König von Navarra – ebenfalls ein Troubadour - , dass wenn sie fein ist, aus ihr Wissenschaft und Schönheit entspringe. Wenn dies der Fall ist, dann kann Kerz keinen besseren Plan fassen, als sich mit den ihn beunruhigenden Gedanken fein zu beschäftigen.

Was geschieht, wenn Kerz von schweren Folterungen hört oder liest?

Was ist eine feine Beschäftigung? Eine, die aus dem Herzen kommt? Ist es das Herz, das den Menschen über dem Labortisch schweben lässt? Was geschieht, wenn Kerz von schweren Folterungen hört oder liest? Im Falle von Zammar beschäftigt ihn, dass der Inhaftierte, nachdem er gefoltert worden ist, Kraft aufbringen musste, seine Scham und sein Leid anderen in der aussichts- und gehörlosen Situation der Zelle im Folterkeller zu flüstern oder zu schreien. Der Versuch, sich dies vorzustellen, quält Kerz, weil es ihn nahezu unvorstellbar ist. Er kann es nicht verstehen kann, muss aber einsehen, dass es mehr als etwas für ihn Unvorstellbares gibt. Es ergeht ihm vielleicht ähnlich wie Galileo Galilei. Der musste einsehen lernen, dass es Welten gibt, die jenseits seines unbewaffneten Auges exisitieren.

Hilft ein Plan, wenn man die Existenz unbekannter Welten erfährt? Ein Plan ist eine Form der Verringerung des Unbekannten. Er schützt das Herz. Das versperrt den Weg zu Wissenschaft und Schönheit im Sinne des Königs von Navarra. So gesehen befindet sich Kerz nach wie vor in einem Schwebezustand. Freie Tage gehen meistens schneller als gewünscht vorrüber, danach setzt das Regelwerk des geschäftlichen Alltags ein. Ohne Plan gerät das Alltagwerk irgendwann einmal aus der Bahn. Dann spätestens kann sich Kerz neu orientieren, vielleicht findet er dann einen Ansatz, um das Leid in den Folterkellern zu vermindern, z.b. indem er sich für Amnesty International einsetzt oder spendet. In der Zwischenzeit sind Schreie zahlreicher Gequälter schon verstummt. Kerz ist dann zu spät. Das ist er auch jetzt schon.