22.05.2004

Notizen eines Kerzenhändlers - Folge 27

von Nils Röller

Aufschwung
"Man lädt Dich ein, beim nächsten Strassenfest einen Stand zu mieten, man wird Dich vielleicht in der Bäckerblume portraitieren, eventuell kommen auch freie Mitarbeiter des Lokalsenders auf Dich zu, um Dich zu interviewen. Dein Geschäft läuft, die Kunden geben sich bei Dir die Tür in die Hand, die Zwischenhändler bieten Dir günstig ihre Waren an und Du bist im Viertel ein beliebter Geschäftsmann. Da ergeben sich neue Perspektiven", stellt Zeich fest und fährt fort: "Du nimmst am allgemeinen Aufschwung teil, bald kannst Du es Dir leisten, mir meinen Zweitwagen abzukaufen und mein Laptop zu übernehmen. Junge, das wird was. Wir rücken einander näher". So die Worte von Zeich, der heute im Geschäft von Kerz vorbeikam, um Büchertüten, die er in den letzten Jahren im Geschäft deponiert hat, abzuholen. Er wirft dann den Blick auf folgende Notizen von Kerz, die er dann kommentiert (Fortsetzung Tagebuch).

Painstation
In den Keller der Wohnhäuser in der Trimbornstrasse wird der Erforscher moderner Seltsamkeiten reiche Eindrücke fangen können, nicht einmal nur in den Häusern, deren Fassaden die Sensationen der Mittelbürger mit trägem Allgemeinsinn irritieren wie der Afrika-Shop, sondern vielleicht gerade hinter den unscheinbaren Fassaden werden sich Kellertreppen verbergen, die zu Entdeckungen führen. Er ist wohl beraten, einen gesicherten Zugang in diese Welten zu suchen, und dazu bietet sich der Eingang des Büros für Brauchbarkeit an. Durch das geräumige Büro führt der Weg über einen dunkelgebeizten Holzfussboden, weiter über den Betongrund des Hofes hinein in eine Remise, die Stufen hinab in einen Keller. In dem Keller findet man eine Werkstatt, in der zwei Apparaturen stehen, deren Funktionen mit silbernen Totenköpfen geregelt werden: 2 neue Painstations von fur.

Roman
"Vielleicht ist es nicht etwas bloss Privates zu zeigen, wie ein Mensch heute zu einem Roman gelangt, sofern es seine Absicht dabei war, sich der Zeit wirklich zu stellen; oder wie er sich ein Tagebuch einrichtet, um in ihr geistig nicht zerrieben zu werden"
(Elias Canetti)

Maschinen
"Das kann doch nur metaphysischen Hintergrund haben, die Hoffnung, dass man keine Maschine ist... ich bin sehr überzeugt, dass ich eine nachbaubare Maschine bin... Ich möchte ja mitarbeiten an dem Projekt der Aufklärung, die Aufklärung vollenden, indem man einen Menschen baut... ich möchte einen Menschen bauen. Ich möchte mich nicht an Gottes Stelle setzen, sondern ich möchte zeigen, dass Gott nicht notwendig ist".
(Oswald Wiener in doku/fiction)

Gutachtlich
"Ein Diplomat aus dem gesichertsten Land der Erde, kein Deutscher, durch hohe Posten international bekannt, schreibt gutachtlich..."
(Gottfried Benn)

Reissen
"... wenn wir in den Wald gehen und es kommt ein sprachähnliches Geräusch, dann reisst es uns... Das hat nichts mit Spekulation und nichts mit Denken zu tun, sondern da springt etwas an. Da musst du dich erst beruhigen, und wenn du ein Kind bist, wirst du sagen, das war wahrscheinlich gar kein Mann, das war der Ast [verstellt die Stimme und ahmt knarzenden Ast nach:] 'Wozu bist du da?' Dann sagst du: 'Ach so, na ja, Gott sei Dank' Das ist biologisch und für die Musik muss es auch so etwas geben... Zwar ist bis heute nicht geklärt meines Wissens, wieso wir gewisse Geräusche als Klänge empfinden. Klar ist aber – wie gesagt, ich spreche da ziemlich laienhaft – dass es Areale in unserem Gehirn gibt, die speziell auf Sprachlaute ansprechen und sie in ihren Verknüpfungen klar auseinanderhalten. Das hat was mit Frequenzen, Obertönen usw. zu tun. Da gibt es spezialisierte Gebiete in unserem Gehirn..."
(Oswald Wiener in: doku/fiction)

Hörspiel
"schliesst den Augenmenschen aus; es wirkt daher im abgedunkelten Raum stärker als im hellen. Es erregt die Phantasie nur durch das Ohr"
(Erwin Wickert in: Akzente 1/1954)

Radio Lotte - Stationen
1.Juli +++ Hafis - Ein Künstler-Nomade im Kunstmuseum Neuchâtel aus
22.Juli +++ Baudrillard und die Künste
29.Juli +++ Beat Generation
5.August +++ Tagebuch schreiben
12.August +++ We proceeded on

Musikkritik
"Nein, verwaschen ist alles, was man über Musik reden kann, weil Musik besteht aus Hören oder Spielen. Alles, was ich je an Musikkritik gelesen haben, ist vollkommener Mumpitz".
(Oswald Wiener in: doku/fiction)

Singen
Und wie können wir singen,
den fremden Fuss auf unserer Brust,
zwischen den auf den Plätzen verlassenen Toten,
auf dem hart gefrorenen Gras der Ebenen, beim
Lämmerklagen der Kinder, beim schwarzen Schrei
der Mutter, die ihren Sohn antrifft,
gekreuzigt an einem Telegraphenmast?

Im Laub der Weiden wurden auf Wunsch,
auch unsere Lieder gehängt,
schaukelten leicht im traurigen Wind.
(Salvatore Quasimodo)

Blaufarbenwerk
1635 gründet Veit Hans Schnorr im sächsischen Aue ein Werk, das Blau liefert für Delfter Kacheln, venezianisches Glas und Meissner Porzellan.

We proceeded on
steht wiederholt in den Journalen von Meriwether Lewis und William Clark. Sie brachen am 14.5.1804 von Saint-Louis am Missouri Richtung Nordwest auf.
"Lewisancaroll" legten bis zu ihrer Rückkehr am 23.9.1806 12.300 km zurück, bei denen sie über weite Strecken dem Verlauf des Missouri folgten. Jefferson förderte diese Expedition mit den Ziel, für die damals noch kleine, nur 13 Staaten an der Ostküste vereinigende Nation den Zugang zum Meer im Westen zu sichern. Das erschien dem Präsidenten angesichts der Engländer im Norden und der Franzosen im Süden notwendig. Lewisancaroll folgten dem Flussverlauf in der Hoffnung, dass er sie durch den Kontinent, hin zum offenen Meer führen würde. Den sie orientierenden Fluss stelle ich mir als störrische Zeile vor, an der sie sich, wie das Auge des Nutzers einer alten Schreibmaschine entlang bewegen. Der Kongo im "Herz der Finsternis" ist auch ein Zeilenband. Nach Joseph Conrad führt es in die dunklen Seiten der menschlichen Seele. Wieviel besser als die Europäer, die sich auf dem schwarzen Kontinent vortasteten und dabei ihre eigenen psychischen Abgründe entdeckten, haben es die Amerikaner auf ihrem neuen Erdteil. Ihre Expeditionen führen nicht in die Dunkelheit der menschlichen Seele, sondern zu den Weiten des Pazifiks, der unendlich wirkt. Unendlich wirkt auch der Weltraum, der heute von Expeditionen stückweise erkundet wird, die noch viel Zeit, Geld und Sorge beanspruchen werden, bevor die Erkundung der Seele wieder auf Agenda steht. Kubrick und Clark haben dem allerdings vorgegriffen. Sie zeigten in "2001" wie die Reise in die Fernen des Weltraums umschlägt in eine Reise in die eigene Vergangenheit und die Seltsamkeiten der Psyche eines Astronauten.

Eloquenz
Denn eine funkelnde Sprache ist ebenso auffällig wie ein gutes Gedächtnis.
(Edward Said in: Le Monde Diplomatique Nr. 8/2004)

2030
Da China im Jahr 2030 so viel Energie verbrauchen wird wie heute die USA und Japan zusammen, diesen Bedarf aber nicht mit eigenen Erdölreserven decken kann, wird es bis 2020 seine Atomstromkapazitäten verdoppeln, d.h. jedes Jahr zwei neue Kernkraftwerke bauen müssen. [Kerz hat gern, allerdings fälschlich, im folgenden Satz "-schützer", statt –verschmutzer" gelesen:] Aber auch dann wird das Land, das 2002 das Kioto-Protokoll unterzeichnet haben [sic!], zum grössten Umweltverschmutzer der Welt aufrücken, nachdem es heute bereits Platz zwei belegt.
(Ignacio Ramonet in: Le Monde Diplomatique Nr. 8/2004)

Liebende Eltern
hat der 1958 in Anvers geborene Künstler Jan Fabre, der auch Künstler-Krieger genannt wird, nach Aussagen von Rosita Boisseau in: Le Monde 15/16. 8. 2004.

Lötschbergtunnel
Warum zeigen Schweizer Zeitungen schwarze Löcher? Am 1. Januar 2007 soll ein Tunnel eröffnet werden, in dem Hochgeschwindigkeits-Bahnverbindungen durch die Alpen für den Güter- und den Personenverkehr möglich sein sollen. Der Tunnelbau unter 1500 Meter Fels, der Teil eines europäischen Verkehrsprojekt ist, ist wiederholt auf den Titelseiten der Schweizer Tageszeitungen zu sehen. 34, 6 km, die letzten 5 km sind die schwierigsten, sind bis zur Fertigstellung zu bohren und zu bauen. Die Öffentlichkeit beschäftigt sich mit Grabungen unter Tage, das ist trotz der dort herrschenden Dunkelheit, Zeichen einer hellsichtigen Beschäftigung mit den Verkehrsproblemen, die durch die europäische Einigung entstehen, nämlich Verbindungen herzustellen, damit der Verkehr so fliesst, als sei Europa eine glatte Fläche und nicht ein von Bergen, Schluchten und Flüssen durchfurchtes unwegsames Gebiet. Damit wird ein Diktum Hans Magnus Enzensbergers erhärtet. Es besagt, dass die Überquerung der Alpen in unseren Zeiten leichter ist als die Überquerung einer Hauptverkehrsstrasse. Die sachliche Erhärtung dieser Aussage hat im Fall des Lötschbergtunnels bereits vier Tote gefordert, voraussichtlich werden 4, 159 Milliarden Franken ausgegeben werden müssen und 16 Millionen Aushubmaterial zu verteilen sein.

Tagebuch
"Aus zeitökonomischer Sicht sind Deine Notizen interessant. Du schreibst offensichtlich immer gerade soviel, wie das Geschäft Dir Zeit lässt. Das erinnert mich an die Anekdote von zwei Uhrmachern. Beide stellen sehr gute Uhren her, die Telefone in ihren Werkstätten klingeln deshalb unablässig. Während das Geschäft des einen blüht, verarmt der andere. Warum? Die Uhr des einen ist so konstruiert, dass seine Produktion kaum durch die Anrufe der Auftraggeber unterbrochen wird, während der andere, jedes Mal, wenn das Telefon läutet, seine Arbeit von vorne beginnen muss. Er findet immer seltener die zur Fertigstellung seiner Uhren nötige Zeit. Ich frage mich, ob Du jemals Zeit finden wirst, diese Notizen zu einem Werkstück, zu einem Text, der andere beschäftigen kann, zusammenzuführen. Vielleicht wirst Du Zeit haben, wenn Dein Geschäft wieder einmal schlecht geht, aber dann wirst Du nicht stark genug sein. Schreiben setzt ein stabiles Ego voraus. Dafür gibt es mindestens zwei Modelle: die glücklichen Schriftsteller und diejenigen, die Tagebuch führen. Zu beiden wirst Du nicht gehören, noch weniger gehörst Du zu der Gruppe tätiger Menschen, die nebenbei Texte über ihre Erlebnisse verfassen, Lebensrückblicke, journalistische Romane. Ich würde auch nicht raten, die Notizen zu einem Werkstück zusammenzufügen, sondern sie als Bausteine oder besser Werkzeuge betrachten, mit denen Du Dein Ego am Laufen hältst. Ich kann jetzt nicht weiter sprechen, weil ich zu einem Termin muss," beendet Zeich seine Ausführungen und steigt in seine Limousine, die heute mittelklassig wirkt.

Tangobot
Kerz hört jeden Morgen zwischen acht und neun Tango. Dann übt ein Paar in der Nachbarwohnung Schritte für den Ferientanzkurs, den sie am Mittag besuchen. Kerz bemerkt, dass er seine Gliedmassen jetzt anders verwendet, jedenfalls morgens zwischen acht und neun, dann schleift er mit den Füssen durch sein Geschäft und benutzt sein linkes Knie wie ein Scharnier einer Holzpuppe. Das gibt sich dann im Laufe des Tages wieder, bis morgens die Musik aus der Nachbarwohnung seinen Mechanismus wieder aufzieht. Die Wohnung seiner Nachbarn muss geräumig und bequem zum Paartanz sein. Vielleicht haben die beiden keine Möbel oder soviel Quadratmeter gemietet, dass trotz der Möbel ausreichend Platz zum Tanzen bleibt. Kerz stellt sich vor, dass mehrheitlich weisse nebst einzelnen rot glänzenden Bändern in der Wohnung aufgespannt sind. Er denkt sie sich als Modulationsriemen, die das Gefühlswerk der Zweisamkeit seiner Nachbarn in Gang halten. Anders ist die Wohnung, die F. mit K. einrichtet, sie soll, wie er in einem Essay von Elias Canetti lesen kann, aus wuchtig schweren Möbeln bestehen, die wie die Hochsitze von Aufsichtsräten das Paarverhalten beobachten und bestimmen. Komisch-traurig ist die Wohnung des Junggesellen Blumfeld, in der K. Zelluloidbälle umherspringen lässt, von denen Kerz allerdings nur liest und sie nicht wie die Tangotakte der Nachbarn hört.

K. und F.
F. wird im Verlauf des Briefwechsels K.'s Transformator. Er bedenkt am Beginn des schriftlichen Austauschs die Möglichkeit, "wenn es wahr wäre, dass man Mädchen mit der Schrift binden kann?" und realisiert sie dann schrittweise, indem er zunächst einen Kanal zwischen ihnen herstellt. Dazu schildert er "mutwillig" detailreich ihre Erscheinung beim erstes Treffen ("Sie sagte, dass Abschreiben von Manuskripten ihr Vergnügen mache und bat Max ihr Manuskripte zu schicken. Darüber staunte K. so sehr, dass er auf den Tisch schlug"), spricht ausführlich über sein Leiden und erkundigt sich genau über ihre Verhältnisse: "die Räume, in denen sie sich bewegt will er so gut kennen, wie ihre Zeiteinteilung".

Der magerste Mensch
K(afka).
(Elias Canetti)

Experte der Macht,
unter allen Dichtern ist Kafka der grösste.
(Elias Canetti)

Verstocktheit
Kafka hat sich von Anfang an auf die Seite der Gedemütigten gestellt... Es war ihm nicht gegeben, Demütigungen durch Beteiligung und Mitteilung loszuwerden; er hütet sie mit einer Art von Verstocktheit, als wären sie sein wichtigster Besitz. Diese Verstocktheit möchte man als seine eigentliche Begabung bezeichnen.
(Elias Canetti)