29.04.2004

Notizen eines Kerzenhändlers - Folge 26

von Nils Röller

Verein
Auf einer Karte entdeckt Kerz einen Hinweis über eine Gemeinschaft von Leuchtmittelhändlern. Das sind Leute, die wie er etwas anbieten, das zusätzlich Licht schafft. Im ersten Moment freut er sich, dann beginnt ein Unmut darüber in ihm zu nagen, warum er bisher nichts von der Gemeinschaft wusste, wahrscheinlich mögliche Treffen verpasst hat und überhaupt, warum er allein ist, während die anderen zusammen sind. Beim Überfliegen der Zeilen liest er oft das Wort "nicht" und überlegt, ob Leuchtmittel etwas mit "nichts" zu tun haben. Während er dieser Überlegung nachgeht, beginnt er in weiteren Karten zu blättern und entdeckt eine Karte mit der Aufschrift "Licht", die in ihm den Gedanken weckt, dass der Verein eine Form ist, und das heisst etwas, das eine Grenze zwischen ihm und anderen zieht, die sich innerhalb dieser Form befinden. Daher rührt auch Kerz' Unmut, nämlich dass es Leute gibt, die zwischen Zugehörigen und Aussenstehenden unterscheiden. Kerz ist nicht sicher, ob das so sein muss. Für einen Moment erscheint ihm also die Verbindung zwischen Zeitungsartikel, Leuchtmittelhandel und Verein so kraftvoll, dass er sich veranlasst fühlt, Fragen zu stellen, z.B. ob er selbst über Mittel verfügt, sein eigenes Vermögen jenseits des Vereins zu vermehren. Ihn berührt unangenehm der Verdacht, dass er nun selbst beginnt, seine Möglichkeiten und Grenzen zu bestimmen. Die kurze Notiz über die Vereinsbildung setzt bei ihm einen peinlichen Prozess der Grenzziehung. Die Peinlichkeit legt sich erst, als er beginnt eine Alternative zu bedenken, nämlich einen Text, der Möglichkeiten für alle öffnet...

Change
"Wir leben in Tausch-Gesellschaften: jeden Augenblick wechselt man die Worte in Dinge, eine Unterschrift in Ware oder ein Geschriebenes in Gold; eine Depeche in Krieg; einen Brief in Revolution; ein Gedicht in (Sprach-) Wissenschaft". (Jean Pierre Faye, zit. Nach Reblitz, Irma:"Formwechsel: Change eine neue französische Literaturzeitschrift". In: Akzente 1969).

Der weisse Kranich
Weiss fiel ein Kranich ein auf herbstlichem See,
Gleich einem Tropfen Tau, der niedergleitet.
Mein Herz war still war ihm nur zugewandt:
Einsam stand er, am Rande der Sandbank gespreitet.
(Li Tai-bo übersetzt von Günther Debon)

Antithetisches bei Li Tai-bo
Da ruht im Blütenglast ein dunkles Rind
Im Föhrenwipfel träumt ein weisser Reiher.

Blaue Gebirge belagern die nördliche Mauer;
Weisse Gewässer umwinden östlich die Stadt.
(Li Tai-bo übersetzt von Günther Debon)

Flussab nach Giang-Ling
Ein letzter Gruss dem Weissen Himmelsherrn,
        der noch in bunten Wolken lag:
Nach Giang-ling, tausend Meilen fern,
        führt heimwärts mich ein einziger Tag.

Eh noch verklungen beiderseit
        Am Ufer war der Affen Schrei,
Glitt unser leichtgebautes Boot
        An zehnmal tausend Bergen vorbei.
(Li Tai-bo übersetzt von Günther Debon)

Grammatik
Macht nach Wilhelm von Humboldt einen unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln. In ihr gilt es also nicht nicht nur die schematisierbaren Gesetzmässigkeiten aufzusuchen, sondern die Verhältnisse bei der Umformung.
(Chomsky, Noam paraphrasiert von Reblitz, Irma)

Ruinen und weidende Schafe
"So einen Eindruck habe ich manches Mal bei eurer Musik [Mouse on Mars]. Es ist so, als ob man an einer Ruine vorbeifahren würde, wo alles zerbröckelt, und durch die Fenster sieht man manchmal, dahinter ist es grün und die Schafe weiden ... Manches an eurer Musik imponiert mir, weil das wie eine Gegenform ist, wie eine Hohlform von etwas. Es wird auf etwas gezeigt, man hat das Gefühl, hier ist mir noch nie aufgefallen, dass das und jenes an der Musik notwendig ist, und hier fällt es mir auf, weil irgend etwas nicht da ist... Es ist alles weg, was früher grosser Ton war. Alles Sentimentale oder fast alles Sentimentale ist weg, und das bisschen, was noch da ist, ist nur mehr ein Aufputz der Ablehnung."
(Oswald Wiener)