09.12.2008

Literarisches Berlin

von Eckhard Fürlus

Ein Kalender für das Jahr 2009

Der Stacheldraht wächst langsam ein Tief in die Haut, in Brust und Bein
ins Hirn, in graue Zelln
Umgürtet mit dem Drahtverband
Ist unser Land ein Inselland.
Wolf Biermann (*15.11.1936)

Der Moderator und Reporter Ulli Zelle, bekannt geworden durch seine Tätigkeit als Herausgeber, durch seine Interviews mit Mick Jagger und Michail Gorbatschow, aber auch durch seinen zusammen mit Tilman Bucher gedrehten Film 'Berlin im Christo-Fieber' von 1995, hat in der edition ebersbach einen Kalender herausgegeben. Der Titel: 'Literarisches Berlin 2009'. Auf 56 Seiten für 53 Wochen enthält dieser Kalender Ansichten der Stadt Berlin und Literatur – Biographien und Prosatexte – von Berliner Schriftstellern aus der Zeit, als die Stadt durch die Mauer in einen Ost- und Westteil geteilt war.

Der Kalender 'Literarisches Berlin 2009' gehört in die Reihe der Literaturkalender der edition ebersbach, darunter 'Männer 2009', 'Künstlerinnen 2009', 'Literarische Ostsee 2009', 'Literarisches Hessen 2009', 'Literarisches Österreich 2009' usw., um nur einige Titel aufzuzählen.

Das Titelbild des Kalenders 'Literarisches Berlin 2009', von dem hier die Rede sein soll, ziert eine Fotografie, die von Joseph Gallus Rittenberg aufgenommen wurde; sie ist das wohl bekannteste Foto von Heiner Müller, der, aus der Kanalisation – aus dem Underground zum Overground – krabbelnd, sich ans Tageslicht begibt. Dann folgen Fotos und Texte von Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann, Jurek Becker, Pieke Biermann, Wolf Biermann, Thomas Brussig, Hans Christoph Buch, John Le Carré, Adolf Endler, Jenny Erpenbeck, Max Frisch, Günter Grass, Durs Grünbein, Regine Hildebrandt, Uwe Johnson, Sarah Kirsch, Günter Kunert, Katja Lange-Müller, Monika Maron, Irmtraud Morgner, Leonie Ossowski, Ulrich Plenzdorf, Lutz Rathenow, Brigitte Reimann, Peter Schneider, Bernhard Klaus Tragelehn, und vielen anderen, aber auch von Musikern wie David Bowie, der von 1976 bis 1978 in Berlin wohnte und die heimliche Berliner Hymne auf seinem 1977 erschienenen Album 'Heroes' veröffentlicht hatte, von Sven Regener oder der Gruppe Ideal. Zu den Fotos gibt es kurze und prägnante Erläuterungen zu den Autoren und Schauplätzen, die zusammen mit den ausgewählten Textpassagen Schlaglichter werfen auf Berliner Geschichte vor und nach dem Mauerfall 1989.

Neben bekannten Fotos gibt es überraschend ungewohnte, bisweilen befremdliche Ansichten von Gebäuden und Plätzen, Erinnerungsorten, die wie aus der Zeit gefallenen anmuten, so vom Thälmann-Denkmal hinter einem Meer aus roten Tulpen, vom Palasthotel, das längst einer neueren Bettenburg weichen musste, vom Ausländerübergang Friedrichstraße, von der Zimmerstraße mit dem Mauerstreifen, vom Luftbrücken-Denkmal vor dem noch intakten Flughafen Tempelhof, lange vor dessen Schließung, vom Sektorenübergang Invalidenstraße im Jahr 1966. Auf der vorletzten Abbildung in diesem Kalender wird Heiner Müller, der vor nicht ganz 13 Jahren starb, zitiert mit den Worten:

„Ich bin immer ein wenig in Verlegenheit, wenn ich über meine Ideologie referieren soll. Meine einzige Möglichkeit, mit Wirklichkeit umzugehen, ist als Künstler. Sonst bin ich da ziemlich unglücklich. Und die Funktion von Kunst besteht für mich darin, die Wirklichkeit unmöglich zu machen – die Wirklichkeit, in der ich lebe, die ich kenne. Meine Chance in der DDR ist, dass dort die Ideologie viel mehr eine Wirklichkeit ist, oder ... Materie, als anderswo; vielleicht gefällt’s mir deswegen, dort zu leben.“