23.01.2008

Tastende Instrumente

von Nils Röller

Weisers Praxis erteilt der Vorstellung Flussers eine Absage, dass die Differenz zwischen Künstler und Wissenschaftler schwinden wird.

„Don`t go! I am not finished“ sind die ersten Sätze des Schauspielers Johnny Depp in Tim Burtons Film Edward mit den Scherenhänden. Edward, dargestellt von Johnny Depp, ist ein künstlicher Mensch, ein Enkel Frankensteins, dessen Fertigstellung durch den plötzlichen Tod seines Schöpfers gestoppt wurde. Die Produktionsstrasse, an der Edward vollständig entstehen sollte, ist mit den Attributen des mechanischen-elektrischen Zeitalters ausgestattet. Transformatoren und robuste metallene Gerätschaften sind entlang des Fliessbandes zu sehen, das in der Halle eines neogotischen Schlosses installiert ist. Edward haust dort nach dem Tod seines „Erfinders“ auf dem Dachboden. Der unvollendete künstliche Mensch tritt in Erscheinung, als eine Avon-Beraterin auf der Suche nach Kundschaft die Liegenschaft des Erfinders durchstreift. Sie stammt aus der Welt des oberflächlich vollendeten amerikanischen Traums. Es ist die Welt pinkfarbener Einfamilienhäuser, in denen sich Ehefrauen zwischen elektrischen Haushaltsgeräten langweilen, während ihre Ehemänner in Limousinen unterwegs zur Arbeit sind. In diese Welt gerät der unfertige Edward. Er ist ein Relikt der Pionierzeit, als Erfinder, Mechaniker und Naturwissenschaftler die Grundlagen für die Technologien lieferten, die nun kleinbürgerliche Lebensformen in den amerikanischen Vorstädten ermöglichen. Statt Fingern hat Edward Scheren an den Händen. Edwards „unfinishness“ lässt die Ungleichzeitigkeit von kulturellen Effekten in der Krise der Linearität wahrnehmbar werden.

Unter der Krise der Linearität verstand Vilèm Flusser im gleichnamigen Aufsatz den „Aufstand“ der Zahlen gegen die Buchstaben, also eine prinzipielle Spannung zwischen den Kulturtechniken Zahl und Vokalalphabet. Er konstruiert die Krise auf der Grundlage eines dreistufigen Geschichtsmodells, in dem eine bildlich-magische Phase von einer schriftlich-begrifflichen abgelöst wird. Die schriftlich-begriffliche Phase wird mittels computergestützter Modellrechnungen in eine Krise gestürzt, die das "Denken, Fühlen, Wünschen und Handeln" verändern soll. Flusser visioniert in dem gleichnamigen Text aus dem Jahr 1988, dass die Krise zu einer neuen Intersubjektivität führt: Unsere Enkel werden an Tastaturen Nullen und Einsen manipulieren. Sie diskutieren an Bildschirmen Modelle und einigen sich darauf, welche Modelle sie realisieren lassen wollen. Deren Realisierung ist nur eine Variante des zwischenmenschlichen Spiels mit Codes, die potentiell in der Lage sind, Partikel, Atome und elektromagnetische Felder zu manipulieren.

Der Künstler Herwig Weiser erstellte mit dem zgodlocator am Ende der neunziger Jahre eine Skulptur, die Aspekte von Flussers Vision realisierte. Auf einem Podest sitzen Besucher um ein kreisförmiges Plexiglas. Unter dem Glas ist eine körnige Partikellandschaft zu sehen. Sie ist stammt aus dem Recyclingprozess von Computern, bei dem Hardware zu einem Materiebrei geschreddert wird, der dann in brauchbare Werkstoffe getrennt werden kann. In Weisers Installation können die Besucher mit Magneten diese Partikelmischung bewegen. An Schaltern und Drehknöpfen verändern sie Stärke und Richtung der magnetischen Spannung und modulieren so interaktiv die Bewegung der Materie. Weiser war bei dem Projekt auf intensive Unterstützung durch Wissenschaftler und Ingenieure angewiesen. Dies gelang auf der Basis der Anerkennung der Differenz zwischen künstlerischer Praxis und wissenschaftlich-technischer. Die Einhaltung der Differenz zwischen dem sozialen Status des Künstlers und dem der beteiligten Wissenschaftler ist Teil von Weisers Erfolgsstrategie. Weisers Praxis erteilt der Vorstellung Flussers eine Absage, dass die Differenz zwischen Künstler und Wissenschaftler schwinden wird.

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Ausschnitt aus der Printversion von: „Tastende Instrumente - Künstlerische Verfahrensweisen in der Krise der Linearität“. In: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst e.V. (NGBK) und Europäische Medienwissenschaft/Potsdam (Hg.): Multitasking – Synchronität als kulturelle Praxis. Berlin 2007