das-volle-leben
12.11.2008

Das volle Leben: Männer über achtzig erzählen

Autor/en: Susanna Schwager

Erzählen, um am Leben zu bleiben

von Werner Fuchs
Schön, dass die Autorin ihrem Konzept treu blieb, nicht nur Lebensgeschichten bekannter Persönlichkeiten aufzunehmen.

Eindrücklicher als in der Rahmenerzählung von Tausendundeine Nacht lässt sich wohl kaum beschreiben, warum Menschen Geschichten brauchen. Der Schweizer Schriftsteller fasst es im Satz zusammen: "Der Tod ist, keine Geschichten mehr hören und erzählen zu wollen." Also machte sich Susanna Schwager auf, Menschen zuzuhören und das Vernommene weiterzugeben. "Das volle Leben - Frauen über achtzig erzählen" wurde zum Bestseller, was mich freute. Weniger Freude habe ich in der Regel, wenn ein Erfolgsrezept einfach von A auf B übertragen wird. Doch in diesem Fall habe ich sogar darauf gewartet. Denn Susanna Schwager versteht es, sich vornehm im Hintergrund zu halten und eine Atmosphäre zu schaffen, die ich in den meisten Talkrunden schmerzlich vermisse. Gespannt war ich allerdings, wie weit das Geschlecht des Publikums die Herren auf der Bühne beeinflusst. Da es sich jedoch nicht um ein wissenschaftliches Experiment mit Kontrollgruppen handelt, muss die Antwort offen bleiben. Aber letztlich ist es auch nicht von Bedeutung, ob jemand mit oder ohne Aspirin wieder gesund wird. Wenn ich das Gefühl hatte, dass die interviewten Männer über achtzig ihre um einige Jahrzehnte jüngere Zuhörerin mit Geschichten toller Taten beeindrucken wollten, fand ich das ebenso menschlich und authentisch wie das ganze Buch.

Schön, dass die Autorin ihrem Konzept treu blieb, nicht nur Lebensgeschichten bekannter Persönlichkeiten aufzunehmen. Zumal solche Sammlungen allzu oft zeigen, dass Prominente nicht zwingend mehr zu sagen haben als ein Schmied, Brunnenmeister, Schausteller, Landwirt oder Uhrmacher. Kommt hinzu, dass die elf Männer eben gerade nicht bei ihren Leisten blieben, sondern durch die unergründlichen Wege des Lebens in die verschiedensten Berufe geführt wurden. Als Skeptiker von vorgefertigten Karriereleitern, gecoachter Lebensplanungen und einheitlichen Ausbildungslehrgängen frage ich mich, wo man in achtzig Jahren die Geschichten suchen muss, die Leser fesseln können.

Schön finde ich auch, dass Susanna Schwager erneut darauf verzichtete, die Sprache zu glätten. Und wer die wenigen Dialektausdrücke nicht aus dem Kontext ins Schriftdeutsch übersetzen kann, schlägt eben im dreiseitigen Glossar nach. Um mich zu vergewissern, ob das Überschreiten der Fünfzigerschwelle dem Buch zu einem unverdienten Nostalgiebonus verhilft, erzählte ich zwei Geschichten einem sehr viel jüngeren Publikum. Und mit Erleichterung stellte ich fest, dass die Helden auf der Bühne offenbar Zeitloses zu verkünden haben. Es braucht also nicht zwingend Sex und Crime, Handy und Internet, Masterausweise und Castingshows, um Aufmerksamkeit zu erregen. Es genügt, wenn das Drehbuch von den großen Themen handelt, die jeden Menschen beschäftigen.

Mein Fazit: Nachdem mich bereits die Sammlung der Lebensgeschichten von Frauen über achtzig berührte und begeisterte, freute ich mich auf dieses Buch, in dem die Männer zu Wort kommen. Susanna Schwager sah wohl nicht voraus, dass durch ihr Geschlecht noch eine zusätzliche Komponente ins Spiel kommt, die Auswahl und Formulierungen der Lebensgeschichten beeinflussen: Auch bei Männern über achtzig hinterlässt der Jagdtrieb noch Spuren. Eine Geschichtensammlung, die ich gerne weiterempfehle. Auch all jenen, die meinen, unsere Zeit habe die Individualität gepachtet.