Edgar Hilsenrath
30.03.2008

Nacht

Autor/en: Edgar Hilsenrath

Ein Besuch bei Edgar Hilsenrath, der den Ghettoroman revolutionierte

von Jörg Wild

Der alte Mann zieht noch einmal an seiner Filterzigarette, drückt sie dann aus und antwortet bedächtig. „Nein, ich würde Nacht auch heute wieder genauso schreiben. Das Buch ist richtig so.“ Er sieht den Besucher kurz an, blickt dann auf die immer noch kokelnde Zigarette im Aschenbecher. „Ja. Doch. Genau richtig.“

Er hat „das Unerzählbare erzählt“...

Edgar Hilsenrath ist 81 Jahre alt, seinen düsteren Roman ‚Nacht’ schreibt er über etliche Jahre hinweg in vielen Etappen und im wahrsten Sinne des Wortes unter Qualen. Eine schwere Geburt nennt man so etwas. Kein Wunder, dreht sich das Buch doch um das Leben im Ghetto von Mogilev in der Ukraine. Im Buch heißt die Stadt Prokov. Die Geschichte kreist um Hilsenraths eigene Erfahrungen als junger Mann – und doch ist ‚Nacht’ kein autobiografisches Buch. Er hat „das Unerzählbare erzählt“ und trotzdem vieles erfunden, um sich nicht zu sehr selbst in den Mittelpunkt zu stellen. „Ich schreibe nicht über mich, sondern über die Zeit“, sagt er lapidar.

Um das Buch zu verstehen, muss man tief in die Geschichte eintauchen, die auch Hilsenraths Geschichte ist. Der kleine Edgar, 1926 in Leipzig geboren, in Halle aufgewachsen als Sohn einer bescheiden wohlhabenden jüdischen Familie, hat alle Aussichten auf ein gutes Leben. Den Strich durch die Rechnung machen die Nazis. Der Vater kann kein USA-Visum für die Familie ergattern und schickt seine Familie ins vermeintlich sichere Rumänien zu Verwandten. Der Krieg trennt Vater und Familie, die in der Bukowina bis dahin ruhig leben kann. Doch dann kommen die Nazis und deportieren Edgar, seinen Bruder und die Mutter ins Ukrainische Mogilev-Podolsk, eine durch Bombardements zerstörte Ruinenstadt, in der ein gigantisches Ghetto entsteht.

  • Edgar Hilsenrath bei einer Buchsignierung während der Feier seines 80. Geburtstages (Wikipedia)

Paulette Brodu, eine ebenfalls 81-jährige Französin schrieb kürzlich ihre Diplomarbeit an der Pariser Sorbonne über „die Bedingungen des Menschlichen in ‚Nacht’ von Edgar Hilsenrath“. Die Lebensumstände in Mogilev beschreibt sie plastisch und nüchtern: „Im Ghetto waren 50.000 Juden eingesperrt, die kein Brennmaterial, keine Lebensmittel, keine Kleidung hatten und auch nichts von all dem bekommen konnten. Dies war die rumänische Vernichtungsvariante für die Juden aus Transnistrien, der Bukowina und Bessarabien, die verhungerten, erfroren oder an Seuchen wie Flecktyphus starben. Die Verrohung der Menschen war unvermeidlich und die Umstände waren genauso schrecklich wie in dem Buch ‚Nacht’.“

Die Hauptstraße ist erfunden, auch das Bordell, das eine zentrale Rolle in dem Roman spielt. Es ist der Ort, an dem die Hauptfigur Ranek manchmal einige Lebensmittel erbetteln kann. Der Platz, an den Ehemänner ihre Frauen schicken, weil sie von dort Essen mitbringen können, das die besuchenden Polizisten den Huren geben. Auf den Stufen des Hauses kampieren die Elenden des Ghettos, und von denen gibt es viele.

Ranek schlägt sich als Straßenhändler durch, er ist einer der wenigen, die einen Namen haben in dem Roman. Die meisten anderen sind gesichtslose Figuren ohne Zukunft und damit auch ohne Recht auf Namen.

Die Zeit im Ghetto hinterlässt tiefe Narben in der Seele und im Körper der Bewohner. Im Fluss schwimmen, nein tanzen, die Leichen der verhungerten Ghettobewohner, in den Straßen spielen sich gespenstische Szenen von unvorstellbarer alltäglicher Grausamkeit ab. Das Ghetto kennt kein Erbarmen und seine Bewohner auch nicht. „Mitleid ist nutzlos, und deshalb ist im Buch nicht die Rede davon“, erklärt Paulette Brodu in ihrer Diplomarbeit.

Edgar Hilsenrath, der betagte Poet mit der kleinen Schriftstellerwohnung in Berlin-Steglitz, setzt für den Fotografen seine Baskenmütze auf, die im Laufe der Jahre zu seinem Markenzeichen wurde. Sie passt zu dem langen weißen Haar, den wüsten Koteletten und zu dem vom Leben gezeichneten, markanten Gesicht. Nach der Befreiung des Ghettos durch die Rote Armee im Jahr 1944 schließt Hilsenrath sich den Zionisten an. „Ich bin bis heute einer“, sagt der alte Mann. „Aus tiefster Seele!“ Nur leben kann er nicht im neuen Staat Israel, er wird nie glücklich im Gelobten Land, sondern nutzt die Chance der Familienzusammenführung, trifft seine Eltern und seinen Bruder – alle haben durch ein Wunder die 12-jährige Nacht in Europa überlebt.

Deutschland bleibt Hilsenraths Land. Trotz aller Fürchterlichkeit, die von hier ausgegangen ist. Die Liebe zur deutschen Sprache ist stärker. Dennoch verschlägt es ihn zunächst nach New York, wo sein Ghettoroman ‚Nacht’ entsteht. Abends, nach langen Arbeitstagen in Kneipen als Tellerwäscher und Gelegenheitsarbeiter. Es kostet 20 Entwürfe, bis Hilsenrath seinen Stil findet und entwickelt. Die Groteske und der bitter-schwarze Humor sollen sein Werk fortan prägen.

So viel Realität erträgt Deutschland nicht...

Das Unerzählbare findet seine Form, die von einer großen amerikanischen Lesegemeinde nach dem Erscheinen 1958 mit Begeisterung aufgenommen wird. Nicht der heroische Jude steht im Vordergrund, der heldenhaft oder schicksalsergeben sein Leid bis zum bittere Ende erträgt. Es ist der Mensch im Abgrund, der kein Licht sieht und sich daher auch nicht danach streckt. Menschen im Dreck und in der Verzweiflung. Hungrig, verzweifelt, verlaust und nur noch von Urinstinkten am Leben erhalten. Sexualität als Machtinstrument, Leichenfledderei, Verbrechen fürs Erreichen des nächsten Tages. In seiner Verzweifelung bricht Ranek seinem toten Bruder sogar einen Goldzahn aus, weil er damit Brot kaufen kann. So viel Realität erträgt Deutschland nicht, deshalb wird das Buch zwar 1964 vom Münchner Kindler Verlag veröffentlicht, aber anders als in den USA kein Erfolg.

Hilsenrath selbst sagt, dass sein Roman „mit der Sozialromantik des Ghettos und der verschworenen Schicksalsgemeinschaft“ der Juden aufräumt. Er nennt ‚Nacht’ „das erste Buch, das mit der scheinheiligen philosemitischen Tradition bricht.“ Diesen Tabubruch bezahlt Hilsenrath mit verwehrter Anerkennung. Vergewaltigung im Ghetto, Sex gegen Brot, Leichen als Abfall – so dürfen in den 60er Jahren selbst Juden nicht über Juden schreiben. Erst die revoltierenden Studenten ebnen Hilsenraths Heimkehr nach Deutschland im Jahr 1975. Die Intellektuellen fordern die Wahrheit über die Verbrechen ihrer Eltern, da kommt einer wie Hilsenrath gerade recht.

„Von den Büchern leben? Ja, das kann ich erst seit den Siebzigern“, sagt Hilsenrath heute traurig. Er nimmt einen Schluck von dem starken schwarzen Kaffee, der ihn am Abend wach hält, und erzählt weiter. „Richtigen Erfolg habe ich erst seit zwei Jahren.“ Da hat Elke Heidenreich ‚Nacht’ in ihrer Literatursendung vorgestellt. Seither ist die Auflage in die Höhe geschnellt, es gibt unzählige Anfragen für Lesungen. Und trotz seiner 81 Jahre gönnt der Autor seinen Lesern drei bis vier Auftritte pro Monat. „Der Verlag stellt einen Wagen“, erklärt er.

Die geschichtliche Aufarbeitung einer Zeit, die Hilsenrath als messerscharfer Beobachter und als bitterböser Chronist dokumentiert hat, ist überfällig.

Seitdem sich die Bücher wie warme Brötchen verkaufen, läuft auch ein zweiter Bereich wie geschmiert: Drei Bücher sollen in absehbarer Zeit verfilmt werden, die Verhandlungen finden gerade statt. Das ‚Märchen vom letzten Gedanken’, ‚Der Nazi und der Friseur’ und ‚Bronskys Geständnis’ werden im Laufe der nächsten Jahre auf die Leinwand kommen. Die geschichtliche Aufarbeitung einer Zeit, die Hilsenrath als messerscharfer Beobachter und als bitterböser Chronist dokumentiert hat, ist überfällig. So erschüttert er in ‚Bronskys Geständnis’ das Bild vom erfolgreichen Juden in Amerika. Sein Antiheld schlägt sich eher schlecht als recht durch das New York der fünfziger Jahre und verwickelt sich auf der verzweifelten Suche nach Glück und einer Frau in aberwitzige, groteske und makabere Situationen – eine Parallele zur Situation der Migranten, die sich heute in Deutschland um Anerkennung bemühen drängt sich förmlich auf.

Die späte Anerkennung der letzten Jahre freut Hilsenrath. Natürlich. Die Berliner Akademie der Künste, der er sein Archiv vermacht hat, ehrt seine Arbeit mit einer Wanderausstellung – „Verliebt in die Deutsche Sprache“ heißt sie und zeigt die handschriftlichen Manuskripte zu seinen inzwischen neun Büchern. Er hat seine alte Heimat in der Ukraine und in Rumänien, auch von Kamerateams begleitet, mehrfach besucht.

Ganz wichtig ist für Hilsrenrath auch die nunmehr vollständige Veröffentlichung der zehn-bändigen Werkausgabe im Dittrich Verlag. Nach und nach sind seine wichtigsten Bücher bei Dittrich neu erschienen, die öffentliche Resonanz durchaus wohlwohlwollend, bestätigt Verleger Volker Dittrich. Mit ‚Sie trommelten mit den Fäusten den Takt’ – ‚Erzählungen und andere Texte’ schließt sich der Kreis. Hier berichtet der alte Autor von ganz persönlichen Erfahrungen während seiner Lesereisen und von subjektiven Einblicken in seine Weltsicht.

Jetzt, endlich auf dem Höhepunkt seiner Popularität angekommen, scheint Hilsenrath müde. Das Gespräch hat ihn erschöpft, es bleibt nur noch die Frage nach Paulette Brodu. Die 81-jährige Französin steht in regem Briefwechsel mit ihm. Sie ist die erste, die sich an der germanistischen Fakultät der Sorbonne mit seinem Werk befasst hat. Auch ihr Alter und ihre Liebe zur deutschen Sprache begeistern den Schriftsteller. Vielleicht in einigen Monaten will sie von Paris nach Berlin fahren. Dann, so der Plan, wollen sie sich treffen. Und bei einer Tasse sehr starkem Kaffee über die vergangene Zeit sprechen. Damals in Frankreich und in Mogilev, wo die Nacht vier Jahre währte.