27.12.2004

Wiener Schnitzel und konstantinopolitisches Börek

von Eckhard Fürlus

"Europa eine Seele geben" – Die Berliner Konferenz für europäische Kulturpolitik

"Als in der Türkei die Republik verkündet wurde, mußte Istanbul, fast ein halbes Jahrtausend hindurch Hauptstadt des Osmanischen Reiches, diesen Titel an Ankara abgeben, ohne jedoch deshalb seinen Charakter als Kulturzentrum des Nahen Ostens, dessen schönste Stadt es ist, zu verlieren. Man sagt manchmal, daß der europäische Kontinent in Istanbul aufhört. Welch ein Irrtum! Selbst wer Istanbul nur ein einziges Mal gesehen hat, wird zugeben, daß im Gegenteil Europa in Istanbul beginnt."
Mümtaz Faik Fenik

Ein in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf Initiative und unter den Auspizien des Kulturausschusses der Beratenden Versammlung des Europarates herausgegebenes Buch mit dem Titel "Unser Europa" listet in einem eigenen Kapitel "Unsere Großstädte" unter Auslassung Berlins als erste vor Athen, Roma, Paris, London, Dublin, Amsterdam, Kopenhagen, Stockholm, Oslo, Reykjavik, Wien und Brüssel die Stadt am Bosporus. Istanbul ist nicht nur Schlüssel zur Welt, nicht allein der Ort, an dem Europa beginnt; es ist – so Mümtaz Faik Fenik – durch die den Untergang des Oströmischen Reiches besiegelnde Eroberung Konstantinopels durch Mohammed II. im Jahr 1453 auch der Ausgangspunkt der geschichtlichen Neuzeit.

"Europa eine Seele geben" lautete das Motto der Berliner Konferenz für europäische Kulturpolitik, die am 26. und 27. November 2004 unweit des Brandenburger Tores im Gebäude der Dresdner Bank am Pariser Platz stattfand. Mit dem von Jacques Delors geprägten Begriff wollten die Veranstalter "einen Impuls setzen, um der Kultur in der europäischen Politik mehr Gewicht zu verleihen". Teilnehmer der Veranstaltung waren unter anderem Bundeskanzler Gerhard Schröder und der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, die Außen- und Kulturminister verschiedener europäischer Länder und weitere Politiker sowie Kulturschaffende, darunter Persönlichkeiten wie die Schriftstellerin Nelly Bekus Goncharova, Kuratoriumsmitglied Bronislaw Geremek, der iranisch-deutsche Schriftsteller Navid Kermani, der belgische Künstler Luc Tuymans Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer sowie Kuratoriumsmitglied und Rektor des New Europe College, Andrei Plesu.

Nach der Begrüßung durch Christina Weiß und einer kurzen Ansprache und Danksagung durch Richard von Weizsäcker trat gegen 15 Uhr Bundeskanzler Gerhard Schröder an das Rednerpult und griff das Motto von Jacques Delors, "Europa eine Seele geben", auf. Schröder wandte sich dagegen, die Fortschritte in der Einigung Europas zu relativieren. Europa sei weit mehr als ein gemeinsamer Markt, sagte Schröder und unterstrich das gelebte Bekenntnis zur Pluralität. Auch künftig werde die Europäische Union nicht zum Superstaat werden, sondern ihre föderale Struktur beibehalten. Mit Blick auf Rumänien und Bulgarien und die im Dezember stattfindenden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sagte Schröder, Europa bleibe ein Europa der Nationalstaaten und Regionen, innerhalb derer sich seine Bürgerinnen und Bürger selbst verorten und definieren könnten. Der Beitritt der Türkei biete die historische Chance, eine Brücke in den Orient zu bauen. Aufgabe der Zukunft müsse sein, eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu entwickeln.

"In der Hierarchie unserer Werte sind kulturelle Werte höher einzustufen als ökonomische".
José Manuel Barroso,
Präsident der EU-Kommission

Wie Gerhard Schröder, so hob auch der neue Präsident der EU-Kommission José Manuel Barroso die Vielfalt und der Reichtum der Kulturen als Kern der europäischen Identität hervor. Barroso fragte, was die Kultur für Europa und was andererseits Europa für die Kultur tun könnte. Diese Fragen, machte Barroso deutlich, seien nicht neu; sie hätten in diesem Kontenxt jedoch eine neue Dringlichkeit erhalten. Er unterstrich: "In der Hierarchie unserer Werte sind kulturelle Werte höher einzustufen als ökonomische". Ort und Zeitpunkt dieser Konferenz nannte Barroso ideal. "Our European identity is plural. The word identity can be a dangerous word.", sagte Barroso wörtlich. "Identity does not appear in the European constitution." Aus der europäischen Vielfalt ein "Energiebündel" für die Stärkung Europas und seiner einzigartigen Stellung in der Welt zu machen, sah Barroso als vordringliche Aufgabe.

Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker forderte gegenseitigen Respekt der Völker. "Nichts trennt die Völker mehr als Hochmut und Arroganz.", sagte von Weizsäcker. Staat und Religion seien strikt zu trennen. Unser elementares Interesse und unsere Pflicht sei es, einen clash der Kulturen zu verhindern – "Kreuzzüge werden wir nicht dulden." – und ein Zusammenleben in Freiheit zu gewährleisten. Dafür müßten wir Europäer in Europa eine Grundlage schaffen. Der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher rief die Gründung Europas durch drei größere und drei kleinere Staaten – Frankreich, Italien, Deutschland, Niederlande, Belgien und Luxemburg – in Erinnerung; mit dem Hinweis auf Hans Jonas und der von ihm propagierten Verantwortungsethik wollte Genscher Toleranz nicht als bloße Duldung des anderen verstanden wissen, sondern als Möglichkeit, "den anderen so zu wollen wie er ist."

"Die Radikalität der Veränderung übertrifft sämtliche Revolutionen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts."
Joschka Fischer
Außenminister und Vizekanzler

Außenminister und Vizekanzler Joschka Fischer verwies darauf, daß Rassismus und Antisemitismus im 20. Jahrhundert in Berlin "in Gang gesetzt" wurden. Das Europa der 25, sagte Fischer, mache deutlich, was dieses Europa für uns bedeute: Die Radikalität der Veränderung übertreffe sämtliche Revolutionen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Endlich sei Europa zu vereinigen. Um aus den Fehlern der Geschichte zu lernen, meinte Fischer, brauchten wir eine gemeinsame Verfassung sowie eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Fischer stellte sich und Konferenzteilnehmern die Frage, wie man denn mit der Türkei umgehen solle, und appellierte: "Wir brauchen euch dringender denn je." Vermeintliche Einwände gegen eine Mitgliedschaft der Türkei in Europa nahm er auf; Fischer sagte: " 'Aber ihr habt die falsche Kultur und die falsche Religion, und deshalb paßt ihr hier nicht rein.’ kann nicht die Antwort sein. Wir sind von größerer Bedeutung als wir uns selber zutrauen." – Das, was Europa mit den USA verbinde, nannte Fischer den Grundbestand, die Demokratie. Folgerung könne nur sein, daß die USA den Europäern sagten: Macht schneller. Europa bedeute, daß wir immer zwei Identitäten hätten: Europa und Deutschland, Europa und Polen, usw.

Andrei Plesu, der rumänische Philosoph und Kunsthistoriker, faßte seine Botschaft an die Europäer in einem Wort in der – wie er sagte – lingua franca zusammen: "Relax". Und er fügte hinzu: "Take it easy." Man solle keinen Mißbrauch treiben mit Besorgnis und Hast, meinte Plesu und warnte vor einer kontraproduktiven Inflation des Diskurses. Grundlegende Ähnlichkeiten und legitime Unterschiede gehörten zu Europa. Plesu sagte, es sei Illusion zu glauben, die kulturelle Einheit Europas sei bereits eine vollendete Tatsache. Die europäische Integration, sagte er, sei kein "Fünfjahresplan", sondern eine organische Entwicklung. Der Begriff Kultur sei zu einem schwachen Begriff geworden. Kultur scheine nicht recht ernst genommen zu werden und tauge offenbar nur für Festivals und Colloquien. Plesu beklagte, daß Alt-Griechisch und Latein zu exotischen Fächern verkommen seien und plädierte für eine optimale Dosierung von kultureller Homogenität und Differenzierung. Diese scheinbaren Gegensätze würden traditionell durch die Kultur ins Gleichgewicht gebracht. Daher sollte die Kultur das Modell für Europa sein. Statt dessen sei sie trotz ihrer Potentiale "elegant marginalisiert". Europa dürfe sich nicht nur in einer "Euphorie der Fläche" ausweiten, so Plesu weiter, sondern müsse auch in die Tiefe gehen. Ein Europa der Fläche sei ein Europa "ohne Zenit und Nadir" und ein intellektueller Rückschritt um den Preis wirtschaftlichen Fortschritts. Den europäischen Beamten aus Brüssel empfahl Plesu einen Besuch der südlich der Donau gelegenen, in byzantinischen Mauern eingefaßten Stadt Plowdyw, die er ein "Wunder an Diversität" nannte. Plesu forderte die "Rehabilitierung der europäische Vertikalität".

Die Moderation der Veranstaltung übernahm am Freitag der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Klaus-Dieter Lehmann. Am Samstag moderierten nacheinander das Mitglied der Initiative Berliner Konferenz, Rechtsanwalt Peter Raue, der Herausgeber der Wochenzeitung Die Zeit, Michael Naumann, der ehemalige US-Botschafter John Kornblum und die Sprecherin der Arbeitsgruppe Berliner Konferenz, Nele Hertling. Als absolute Fehlbesetzung für die Rolle des Moderators der Veranstaltung erwies sich Michael Naumann. In der zunächst von Peter Raue mit Geschick und Souveränität, Eloquenz und Eleganz geführten Diskussionsrunde hatte Cristina Gutierrez-Cortines, Mitglied des Europäischen Parlaments, in ihrem Beitrag die Bemerkung fallen lassen, der Mensch sei das Maß aller Dinge. Das konnte Naumann nicht durchgehen lassen, und er korrigierte, nicht der Mensch, sondern Gott sei das Maß aller Dinge. Wirklich peinlich wurde es, als er am späten Samstag Vormittag die Gesprächsleitung übernahm. Der Moderator gerierte sich zum Besserwisser. Den Referenten geriet die Szene im Atrium der Dresdner Bank zum Tribunal. Die zu dieser Veranstaltung eingeladenen Vortragenden wurden von Michael Naumann schulmeisterlich zurechtgewiesen und mit Belehrungen abgefertigt, egal, ob die Referenten Istvan Szabo oder Simon Mundy hießen. Die Schriftstellerin Gabriella Gönczy aus Ungarn hatte in ihrem Vortrag geäußert, Kultur könne ein Türoffner sein. Kultur, sagte Frau Gönczy, sei der einzige Bereich, wo Menschen sich auf gleicher Augenhöhe begegneten. Michael Naumann fühlte sich im Anschluß an ihren Vortrag genötigt, ihre Behauptungen als "Phrasen" entlarven zu müssen. Als der Dichter und Direktor des Centre for the Cultural Environment am King’s College, London, Simon Mundy, die Teilnehmer der Konferenz aufforderte, ihre Regierungen dahingehend zu beeinflussen, daß sie keine Angst hätten vor Europa; es würde nicht zu teuer, prangerte Naumann das "saturierte Selbstverständnis der Westeuropäer" an. Mr. Mundy, sagte Naumann, wisse aus seiner langen Arbeit sehr wohl, daß ein erweitertes Europa viel Geld kosten würde. Jeder Beitrag forderte den ehemaligen Kulturstaatssekretär zum Widerspruch heraus; nahezu jeder Vortrag wurde von Michael Naumann mit abfälligen Kommentaren versehen.

Timothy Garton Ash, Mitglied des Kuratoriums und Professor am St. Anthony’s College in Oxford, positionierte am Samstag zu Beginn seines Vortrags "Wozu Europa, wo will es hin?" als Zeichen der Sympathie mit der Demokratiebewegung in der Ukraine demonstrativ und für jedermann gut sichtbar eine Orange auf das Rednerpult. Diese Konferenz, so Timohty Garton Ash, stehe unter dem Motto "to give Europe a soul". Wörtlich sagte er: "In my opinion, Europe has already a soul and this soul is singing in the streets of Kiev." Timothy Garton Ash sagte, die Seele Europas liege in der wahren und inspirierenden Geschichte "der Ausdehnung der Freiheit, Schritt für Schritt, über 60 Jahre". Das Vermächtnis des in Berlin initiierten Prozesses wird darin bestehen, die Fortführung dieser Geschichte und die kreative Energie, die von ihr ausgegangen ist, fest in der politischen Agenda der Europäischen Union zu verankern.

Weitere Informationen zur Berliner Konferenz für eine europäische Kulturpolitik gibt es im Internet unter www.berlinerkonferenz.net.