21.11.2006

Notizen eines Kerzenhändlers - Folge 40

von Nils Röller

Erneut zum Leben der Wörter: Jules Verne, der sich nicht gut mit seiner Frau verstanden haben soll, schrieb seine Romane morgens früh. Er schuf also Gestalten wie Phileas Fogg, Nemo, Robur, all die Menschen, die sich famos darauf verstehen, Maschinen zu benutzen, sogar zu entwerfen und zu bauen, in der Zeit vor der Morgendämmerung. Die Männer sind nach klaren Schablonen gefertigt. Die wenigen in den Romanen auftauchenden Frauen bleiben konturlos. Jules Vernes Wesen bevölkern seit Jahrzehnten die Gemüter von jungen und alten Männern, also hat der Frühaufsteher erfolgreich Lebensformen erzeugt.

Dass Lebensformen wie diese also in der Lage sind, Leben zu vernichten (Agamben, Giorgio: Nymphae. Berlin 2005: Merve), ist folgerichtig. Sind sie doch einsam am Schreibtisch, fern von wärmenden Betten erzeugt worden. Kerz würde jetzt gerne erneut Besuch von seinen Troubadourgästen erhalten und sich in ihrer Nähe aufwärmen. Allerdings müsste er fürchten, dass ihm der rote Einband von Irmtraud Morgners Troubardouraroman an den Kopf geworfen würde, weil er doch Weiblichkeit schlicht mit Wärme übersetzt und nicht das revolutionäre kritische Potenzial der Frauen, besonders der Troubadoura und der schlauen Melusine, respektiert. Im Übrigen wird die Troubadoura von Morgner als sehr klein geschildert, vermutlich war sie sehr mager, ausgezehrt von den langen Fussmärschen ohne Nahrung, die sich zumutete, um sexuellen Belästigungen der PKW-Fahrer entlang der Strecke Lyon - Paris auszuweichen.

Zwischen seinen Notizen wird Kerz hektisch.

Zwischen seinen Notizen wird Kerz hektisch. Er springt auf, nippt im Aufstehen noch einmal an einer Teetasse, die er so schnell wieder absetzt, dass heisser Tee auf die herumliegenden Bücher spritzt. Mal treibt ihn der Impuls, etwas im Schaufenster zu modeln, dann sortiert er etwas in den Regalen, springt in die Küche oder in das Bad. So geht es während des Vormittags. Er ist selbst damit nicht zufrieden und fragt sich, wie er seine Unruhe bändigen kann. Das Wort Granatapfel in einem der Bücher hilft ihm. Er denkt an die rubinroten Kerne, die vor wenigen Tagen in einer Schale neben der Kasse im marrokanischen Geschäft standen. Er fragt sich, wer die Kerne so fein von der harten, knorrigen Schale der Frucht entfernt hat. Zu so etwas wäre er zu ungeduldig. Seine Fingernägel würden brechen, er würde versuchen, die Kerne mit ihren Kammern auszurupfen, anstatt sie einzeln aus ihrem Bett zu lösen.

Nun muss Kerz nicht Granatäpfelkerne professionell entfernen, aber er müsste seine Kerzen behutsam anfassen. Manche sind schon abgestossen. Sie tragen die Spuren häufiger unsachgemässer Berührungen. Wie kann er selbst behutsamer werden? Er könnte darauf warten, dass jemand aus dem Morgenland in sein Geschäft tritt und ihn verzaubert? Aber auf einen Zauber, der mächtiger als das Wort Granatapfel wirkt, kann er nicht hoffen. Der ist jedoch stark genug, um den Tag zu verschönern.

Kerz lernt auch HCE kennen. HCE ist mehrere Männer. Er hat eine Frau, die mehrere Frauen ist, ein Paar Zwillingssöhne, die mehrere junge Männer sind, und eine Tochter, die auch mehrere junge Frauen ist, darunter Iseult la Belle. Kerz ist nur Kerz. Er kennt einige, z.b. Zeich, die beiden Schönen, und dann kommen immer wieder Kunden vorbei, Besucher seines Geschäftes. Insofern ist Kerz auch jemand, der mit mehreren Menschen in Verbindung steht und er fühlt, dass er HCE nicht fürchten muss. Diese Furcht nützte ihm auch nichts, da Furcht selten geholfen hat. Geholfen habe den Menschen in katastrophalen Situationen, dass sie zwischen verschieden Persönlichkeiten switchen können, so wie der listenreiche Odysseus in der Antike nach der Explosion der Insel Thera, oder zum Beispiel George Bush während der Überschwemmungen in Folge des Hurrikans Katrina. Während dieser Krise war George Bush zum Beispiel der elitäre weisse Protestant, den die Sorgen aus dem Süden der Schwarzen nicht interessieren, und dann für die Fernsehaufnahmen ein sorgender Landesvater, der schwarze Frauen, die weinen, weil ihnen nichts gebliegen ist, in den Arm nimmt.

[...] und Kerz überlegt, ob James Joyce Lebenshilfen bietet.

Modelle für das Jonglieren mit mehreren Charakteren lehrt James Joyce. Der bietet eine Hilfe, die tätig studiert werden muss, anstatt in Ehrfurcht vor ihr zu erstarren. Das merkt sich Kerz, der Joyce allerdings nicht so sympathisch findet wie HCE, aber das macht nichts. Er hat nun gelernt, sich nicht davor zu fürchten, dass ein James Joyce einen HCE entworfen hat, der Konstellationen aus Joyce Lebenswelt widerspiegelt, und Kerz überlegt, ob James Joyce Lebenshilfen bietet. Vor dessen Lebenshilfe fürchtet er sich allerdings doch erheblich, beginnt aber tatkräftig, diese Furcht fort zu schieben oder besser fortzuschreiben, indem er diese Zeilen notiert.