13.03.2006

Notizen eines Kerzenhändlers - Folge 37

von Nils Röller

Kerz bemerkt einen südlichen Schein im Geschäft. Zwischen den Miethäusern strahlt die Sonne und spiegelt sich zartorange auf den Fensterscheiben, als würde sie von einem sommerlichen Grillenzirpen begleitet. Diese Wahrnehmung südlicher Verhältnisse stellt sich ihm ein, als die Tür geöffnet wird und der Duft einer frischen Lieferung Koriander aus dem nahen marokkanischen Geschäft begleitet vom Anblick eines blumenbedruckten Perlonbeutel zu ihm vordringt. Dem Perlonbeutel haftet Behutsamkeit und Handfertigkeit an, die Pragmatik von Spaziergängen in der Stadt, die man mit nützlichen Besorgungen verbindet oder der verklemmte Charme beaufsichtigter Ausflüge, bei denen verstohlen Souvenirs stibitzt werden, um so die Ahnung von Freiheit gegenüber der Beaufsichtigung zu nähren; ein Verhalten, das in Planwirtschaften üblich war, aber auch in den freieren Lüften des Levantehandels. Die Lautfolge Perlonbeutel schwebt in solchen Beziehungen. Sie lenkt Kerz' Aufmerksamkeit in den französischen Westen und verbindet sie mit älteren Bezeichnungen für textiles Handelsgut wie Denim, das auf den Ort Nimes in der Provence verweist, wo der Mistral Lavendelduft verstreut.

[...] von dem mühsamen Weg der Befreiung der Frau in der Weltgeschichte und von den politischen Kämpfen im Pariser Mai.

Der Perlonbeutel wird in dem Buch „Das Leben der Troubadoura Beatrix“ von Imtraud Morgner erwähnt, das zwei Gäste in Kerz' Bleibe führt. Sie kommen im Herbst und bewegen sich zunächst mit einer überraschenden leiblichen Präsenz im Geschäft. Der Mann ist hager, seine Hände sind ölverschmiert, die Frau munter und füllig. Sie wühlt in den Auslagen mit Duftkerzen und atmet immer wieder tief ein. Mehrere Minzkerzen nimmt sie in die Hand, führt sie unter ihre Nase und reicht sie dann ihrem stillen Begleiter weiter. Sie bezahlen eine Kerze mit kleinen Münzen, die wiederholt aus den Händen gleiten und auf den tropfnassen Fussboden fallen, zwischen seine ausgetretenen Halbschuhe und ihre Sommerschuhe aus imitiertem Kork. Sie reibt die Geldstücke an ihren Strumpfhosen trocken, er an seinen Hosen. Kerz ist das peinlich. Er bemerkt beim Versuch, ihrem Trocknen zuvorzukommen, wie durchnässt ihre Kleidung ist. Sein Angebot, sich in seinem Laden aufzuwärmen, nehmen sie an. Wenig später reibt der Begleiter in der Küche seine Hände sauber, sie ordnet ihre Mäntel am Fenster und Kerz serviert Tee. Diese sentimentale Stimmung wird dem Buch, aus dem die beiden stammen, nicht gerecht. Dort ist wiederholt von Vergewaltigungen die Rede, von dem mühsamen Weg der Befreiung der Frau in der Weltgeschichte und von den politischen Kämpfen im Pariser Mai. Das zu berücksichtigen fällt dem duftbetörten Kerz schwer. Er, der zwar die verdorbene Luft in den Industriegebieten Westdeutschlands kennt, zögert dem Gestank der Herstellung von Perlon nachzugehen, geschweige denn das Geschrei der misshandelten Personen in seinem Mietshaus zu koppeln mit der schmierigen Brutalität, der die Troubadoura im Roman Morgners ausgesetzt ist. Woher kommt Kerz`Bemühen um eine gemütliche Stimmung mit seinen beiden eingebildeten Gästen? Es entsteht aus einer Mischung von persönlichen Anteilen und einem heiteren optimistischen Zug des Romans. Darf Kerz diese Heiterkeit in sich wirken lassen, solange er die geschilderten Brutalitäten nicht durchgearbeitet hat? Ein Südländer würde „ja“ sagen, „warum nicht?“, ein deutscher Protestant muss „nein“ antworten. Kennzeichen der deutschen Ästhetik ist es nach Cassirer, dass sie das Primat der aktiven Durcharbeitung vor die passive Rezeption setzt. Was aber nun, wenn die Durcharbeitung zu flauen, halbherzig gemütlichen Stimmungen führt? Dann wird sie ihrem Gegenstand nicht gerecht. Sie verdient nicht zur Kenntnis genommen zu werden. Was aber, wenn sie geduldig doch zur Kenntnis genommen wird? Dann gebührt jemanden anderem als Kerz die Anerkennung, z.B. Ihnen, geschätzte Leser dieser Zeilen.